Seite:Die Gartenlaube (1892) 058.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


Der Zeitgeist im Hausstande.

Bilder aus dem Familienleben.
Von R. Artaria.
(1. Fortsetzung.)


3.

Das Atelier von Karoline Wiesner zeigte nichts von der pomphaften Dekoration, welche heutzutage auch die kleinere künstlerische Größe an ihre Umgebung zu wenden pflegt. Breit und viereckig, ohne jede Vorhangdraperie, hob sich das große Fenster mit seinem Scheibengitter gegen den bleigrauen Winterhimmel ab, Gobelins und Fußteppiche fehlten gänzlich; an den getünchten Wänden waren da und dort Studien angeheftet, auch wohl ein Arm oder ein Bein mit Kohle auf die Mauer gezeichnet. Das Mobiliar beschränkte sich auf ein paar Strohsessel, einen großen, mit Büchern und verstaubten Fläschchen und Farbentuben bedeckten Tisch, sowie auf einen wurmstichigen Großvaterstuhl in der Ecke, in dem die große Gliederpuppe, Toni genannt, ein beschauliches Dasein führte. Ihren haarlosen Kopf, der in verzückter Wendung nach oben gerichtet war, schmückte ein durchlöcherter Strohhut, die übrigen Glieder schlotterten unter einer Art Toga von grünem Glanzkattun hervor. Fräulein Linchen behandelte diese wattierte Armseligkeit mit der gebührenden Verachtung, aber mit der ganzen Zärtlichkeit ihres feurigen Herzens liebte sie den Bewohner der anderen Zimmerecke: ein Skelett von seltener Tadellosigkeit. Sie hatte seinerzeit fast gehungert, um es sich kaufen zu können, nun erfüllte sie auch der gesicherte Besitz mit stets neuer Wonne.

„Sehen Sie nur diesen Bau,“ pflegte sie zu sagen, „diesen herrlichen Brustkorb, die schlanken geraden Arme und Beine! Ja, die wahre Schönheit fängt eben doch erst beim Knochen an!“

„Rinaldo^ nannten Walters Kinder den stillen Mann, wegen eines vom Papa scherzweise ausgesprochenen Verdachts hinsichtlich seines Vorlebens und der Todesursache, die ihn in der Blüthe seiner Jahre der Anatomie überliefert habe – eine schnöde Unterstellung, welcher Fräulein Linchen stets durch den Hinweis auf seine gänzlich unverletzten Halswirbel entrüstet zu begegnen pflegte. Aber den klangvollen Namen hatte er behalten, und es kam gelegentlich vor, daß sie ihn selbst in Gedanken so nannte.

In diesem Augenblick stand sie in der Nähe des Fensters vor ihrer Staffelei, die Brille auf der Nase, eine große Malschürze umgebunden, die Palette und den Pinselbüschel in der Linken, und betrachtete zwischen eifrigem Arbeiten dann und wann voll Entzücken das Original ihres angefangenen Porträts, welches ihr gegenüber auf einer einfachen Erhöhung vor einem aufgespannten Vorhang saß. Zart und bestimmt wie eine geschnittene Gemme hob sich der jugendliche Mädchenkopf von dem dunklen Hintergrund ab. Hellblondes, glänzendes Haar, vom Nacken aufgenommen und oben in einen Knoten vereinigt, zeichnete, von da zur Stirn absteigend, in weichen Hebungen und Senkungen eine Umrißlinie, die entweder der Natur aufs wunderbarste gelungen oder einer sehr erfahrenen Kunst zu verdanken war. Das Gesicht mit dem kurzen Näschen und dem eigensinnigen hübschen Mund hatte mehr den Reiz des Pikanten als der wirklichen Schönheit, aber unbedingt erobernd strahlten daraus ein Paar wundervoller graublauer Augen mit schwarzen Brauen und Wimpern. Die letzteren sollten allerdings, nach Aussage von Vilmas Schulfreundinnen, erst mit ihrem sechzehnten Jahr und ganz plötzlich so dunkel geworden sein, aber Thatsache war nun einmal, daß sie dem zarten Gesichtchen einen eigenartigen Zauber verliehen, der den Beschauer fesselte. Wie sie so im Sessel lehnte, das hellbeleuchtete Profil etwas abgewandt, in der lässigen Stellung den reinen Linienfluß ihrer Glieder zeigend, wäre Vilma von Düring auch für unbefangenere Augen als die des guten Linchens ein reizender Anblick gewesen. Ein schwarzes Kleid, wie sie es mit Vorliebe trug, hob die helle Gesichtsfarbe und die goldene Haarpracht aufs vortheilhafteste hervor; das schmale Hälschen schimmerte durch einen schwarzen Tüllstreifen, der, zur großen duftigen Schleife gebunden, halb einen Strauß blasser Rosen verdeckte, welche Vilma als einzigen Schmuck angelegt hatte.

„Ich bringe und bring’s nicht heraus!“ rief plötzlich Fräulein Linchen in künstlerischer Verzweiflung und warf die Palette zur Seite.

„Was denn?“ fragte Vilma mit einem erstaunten Heben ihrer großen Augen.

„Ja, schauen Sie mich nur an! – Das Unbeschreibliche in Ihrem Gesicht meine ich, das, wofür das Wort Schönheit gar kein Ausdruck ist, obwohl man wieder keinen andern dafür anwenden kann. – Sehen Sie, in Ihrem Alter – ich kann wohl sagen, das gewöhnliche Hübschsein habe ich nie beneidet, weil es mir zu oft langweilig vorkam. Aber wenn es einmal der Natur so geglückt ist – dann sich sagen zu können: das bist Du selbst – Herrgott, das muß wohl schön sein! Sie sind ein Glückskind, liebe Vilma – so, ach, halten Sie den Kopf nur ein wenig so, ich glaube doch, ich könnte es am Ende noch herausbringen.“

Sie raffte die Palette auf und begann von neuem eifrig über die Leinwand zu streichen. Nach einer Pause sagte Vilma:

„So besonders glücklich fühle ich mich aber um meines Gesichtes willen, das Sie noch dazu sehr überschätzen, in keiner Weise. Zum Glück gehört doch viel, viel mehr, was man erleben muß, sich selbst nicht verschaffen kann!“

„Ja, ja, ich weiß – Verlobung und so weiter, ohne das thut es Ihr jungen Mädchen nun einmal nicht. Allein da haben doch Sie wahrhaftig die Wahl, während die andern armen Dinger warten müssen, bis sie gnädigst gewählt werden, um dann ihr Leben lang ihrem Pascha dafür dankbar zu sein!“

„Gewiß,“ sagte Vilma vorsichtig und gedehnt, „die Wahl hätte man ...,“ sie senkte für ein Paar Augenblicke die langen Wimpern: es log sich merkwürdig schwer dieser einfachen unabhängigen Seele gegenüber, die keinen Begriff von der Kette von Entbehrungen und geheimen Erniedrigungen hatte, womit Vilma und ihre Mutter das Leben in der Gesellschaft erkauften, von all den Anstalten und Hoffnungen und nachfolgenden Enttäuschungen, die den Hauptinhalt ihrer bisher erlebten fünf Ballwinter ausmachten. Nicht ihrer besten Freundin hätte Vilma gestehen mögen, wie wenig „Wahl“ sie bis jetzt gehabt hatte. Und nun war sie dreiundzwanzig Jahre alt, und die große Partie, von welcher seit ihrem achtzehnten die Mama träumte, wollte immer nicht erscheinen. O, welche Scenen sie manchmal miteinander hatten, daß ihre Schwester Paula angewidert aus dem Zimmer ging: Klagen, Vorwürfe, Heftigkeitsausbrüche, Thränen – ja, es war wohl der Mühe werth, sie vor andern glücklich zu preisen!

Aber das junge Geschöpf war längst gewohnt, derartiges in sich zu verschließen und mit dem kinderhaften Lächeln zu bedecken, das ihrem Gesichtchen so lieblich stand. Sie zeigte dieses Lächeln auch jetzt, als sie fortfuhr:

„Ich glaube, liebes Fräulein, Sie sind die wahre Glückliche unter uns. Niemand sieht Sie je schlechter Laune, Sie sind eine so zufriedene ...“

„‚Nebenfigur‘, wollen Sie sagen. Ja, das bin ich und darin liegt eben das Geheimniß meiner Zufriedenheit. Es können nicht alle Hauptfiguren sein; wer das früh erkennt und sein Leben auf ehrliche und tüchtige Thätigkeit einrichtet, dem geht es besser als denen, die immer nach einem großen Glück für ihre ausgezeichnete und werthvolle Person streben und darüber nicht einmal die Zufriedenheit erreichen, die jeder ordentliche Mensch in tüchtiger Arbeit finden kann. Es leiden heute gar zu viele an der ‚Ich-Krankheit‘ – die übertriebenen Romane, die jahraus jahrein gelesen werden, mit der dummen Ueberschätzung der Persönlichkeit tragen auch ihr Theil Schuld daran. Man sollte in jeder Schule, in jeder Familienstube eine Tafel aufhängen mit der Inschrift: ‚Du bist gar nichts Besonderes, gehe hin und arbeite fürs Ganze!‘ Das würde dem heranwachsenden Geschlecht gut thun.“

Die schöne Vilma hatte eine Empfindung, als ob ihr Fräulein Linchen einen Vortrag in chinesischer Sprache halte, und suchte ihn deshalb nach Kräften abzukürzen. Sie verfolgte beim Besuch dieses Ateliers einen ganz bestimmten Zweck, der nichts mit philosophischen Gesprächen zu thun hatte, und wollte ihn nicht aus den Augen verlieren. Also neigte sie das Köpfchen, sah die in Eifer gerathene Künstlerin schalkhaft an und sagte:

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_058.jpg&oldid=- (Version vom 4.3.2024)