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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Die Farbe der Gewässer.

Von Carl Vogt.

Großpapa!“ fragten die beiden Enkelinnen wie mit einem Munde, „Großpapa, werden wir, wenn wir nach Genf gehen, über den blauen See fahren?“

Unser Aufenthalt in Salvan, einem reizenden Dorfe des Kantons Wallis, etwa tausend Meter über dem Meeresspiegel, nahte seinem Ende. Die Rückfahrt war lebhaft besprochen worden und beschäftigte fast ausschließlich die Einbildungskraft der Kinder. Des Fragens war kein Ende.

„Wir werden über den blauen See fahren,“ sagte ich. „Zuerst steigen wir hinab zur Station. Die Großmama und ich fahren im Wagen, Ihr anderen geht zu Fuß. Dann steigen wir alle in die Eisenbahn und fahren an den See. Das Dampfschiff ist schon da, und sobald wir eingestiegen sind …“

„Großpapa!“ unterbricht die andere, „warum ist der See so blau?“

Ich mag ziemlich verdutzt ausgesehen haben bei dieser Frage. Wenn ein Narr mehr fragen kann, als zehn Weise beantworten können, so kann ein Kind mehr fragen, als hundert Großväter beantworten können. Mit einer ausweichenden Antwort aber, etwa wie die: „Er ist blau, weil er nicht gelb ist, wie die Oder bei Euch,“ wäre meinen Enkelinnen nicht gedient gewesen.

Je einfacher eine Naturerscheinung auf den ersten Blick scheint, desto verwickelter ist sie in der That. Das ist ein alter Satz; aber man thut immerhin gut, darauf aufmerksam zu machen, daß es keine einheitliche Erscheinung in der Natur giebt, daß alles, was irgend sich ereignet oder von unseren Sinnen aufgefaßt wird, nur ein Ergebniß der verschiedensten, oft sogar einander entgegenstrebenden Kräfte und Ursachen ist, die wir nicht allein durch die Beobachtung auffassen, sondern auch durch den Versuch auseinanderlösen müssen, wenn wir wirklich zu einem Schlusse kommen wollen, der Hand und Fuß hat. Daß der Genfersee blau ist, kann jedermann sehen, und die meisten nehmen diese Thatsache als eine höchst einfache und selbstverständliche hin, ohne weiter über die Ursache dieser blauen Farbe zu grübeln; wenn aber ein Kind in seiner naiven Unbefangenheit nach dem Grunde dieser Färbung fragt, die ihm aufgefallen ist, weil die Gewässer seiner Heimath eine solche nicht zeigen, so taucht vor dem Bewußtsein des Kenners eine fast unübersehbare Menge von Problemen aus dem Gebiete der Optik auf, welche die schwierigsten Gesetze und ausgebreitete Kenntnisse in Anspruch nehmen und über welche nicht nur Mathematiker und Physiker, sondern auch Forscher aller Art, Künstler und Dichter sich die Köpfe zerbrochen haben, ohne überall zu bestimmten Lösungen gelangt zu sein. Wie nun einem Kinde einige Begriffe beibringen, die eine seiner Fassungskraft angemessene Antwort auf die gestellte Frage geben?

Ich war im Begriffe, ein kleines Aquarell zusammenzutuschen, als die Kinder ihre neugierige Frage stellten. Warum sollte ich nicht die Muse der Kunst zu Hilfe rufen? Ein großes Cylinderglas, etwa ein Liter haltend, stand auf dem Tische, gefüllt mit dem herrlichen Wasser, das in Salvan aus den Dachschiefern hervorsprudelt, frisch und kühl, krystallhell und sogar fast chemisch rein.

„Seht Euch einmal das Wasser im Glase an,“ sage ich. „Welche Farbe hat es?“

„Ich sehe keine Farbe,“ meint die eine. – „Es ist roth,“ ruft die andere.

„Aber das kommt ja von den Blumen, die dahinter stehen!“ sagt Anny wieder. „Komm einmal hierher, an meinen Platz, da sieht es nicht roth aus!“

Lili läuft um den Tisch herum und bestätigt, halb ärgerlich, daß das Wasser nicht roth ist. Sie hat vielleicht Anlage, ein Lessing zu werden, den es ärgerte, daß der Frühling stets grün und nicht zur Abwechslung zuweilen roth sei.

„Nicht wahr, Großpapa, das Wasser hat keine Farbe?“

„Doch, liebes Kind. Es ist blau, aber so wenig, daß Du es nicht sehen kannst.“

„Kannst Du denn sehen, daß es blau ist?“

„Ich auch nicht. Aber es ist doch blau. Gieb einmal acht!“ Ich nehme mit der Pinselspitze eine kleine Menge Ultramarin auf und mische sie mit dem Wasser. „Sieht es nun blau aus?"

„Nein! Ich sehe nichts!“

„Ich auch nicht. Aber Du hast doch gesehen, wie ich mit dem Pinsel ein wenig blaue Farbe hinein gethan habe?“

„Ja! Aber es war zu wenig! Thu mehr hinein!“

Ich nehme stillschweigend das Glas und stelle es auf ein weißes Papier in die helle Sonne. „So! Nun sieh einmal von oben hinein!“

„Es ist blau!“ ruft die Kleine, in die Hände klatschend. „Aber nur ganz wenig.“

„Betrachte es auch von der Seite, jetzt, wo die Sonne hineinscheint! Ist es nicht ein bißchen röthlich wie die Glockenblumen, die Ihr gestern gepflückt habt?“

„Das ist doch sonderbar,“ sagt die Kleine. „Von oben ist es blau, in der Sonne ein bißchen röthlich, und wenn man es von der Seite her im Zimmer anguckt, sieht man gar nichts!“

„Denke einmal ein bißchen nach! Das Glas ist so breit wie mein Finger lang ist. Es ist aber wenigstens dreimal so hoch als mein Finger. Wenn Du es von der Seite ansiehst, siehst Du nur durch einen Finger lang Wasser, wenn Du aber von oben hineinschaust, siehst Du durch drei Finger lang Wasser, dreimal mehr! Von der Seite siehst Du einmal blau, von oben dreimal blau! Nicht?“

„Ist das auch wirklich wahr?“ sagt die Kleine und mißt mit ihren Fingern nach. Sie nickt befriedigt.

„Nun stelle Dir einmal vor, das Glas wäre so hoch wie der Kirchthurm oder noch höher, daß es von hier oben in Salvan bis hinunter nach Vernayaz reichte! Dann würdest Du von oben her das Wasser ganz blau sehen!“

„Ist der See denn wirklich so tief?“

„Freilich! Noch tiefer!“

Doch ich will die Unterhaltung nicht weiter fortsetzen. Sie endete schließlich damit, daß verschiedene, sehr einfache Versuche, zuerst mit verschieden gefärbten Steinchen, die ich in das Glas fallen ließ, dann auf die Weise angestellt wurden, daß ich das Glas mit seinem schwach bläulichen Inhalte auf verschieden gefärbte Papiere stellte und den Kleinen begreiflich zu machen suchte, wie die Farben sich veränderten, wenn sie durch die ganze Höhe des Glases betrachtet würden. Daß die Kleinen zu vollständigem Verständniß durchgedrungen seien, will ich nicht behaupten; sie blieben wohl bei dem Satze stehen, daß das Wasser blau sei, unendlich schwach blau, und daß die blaue Farbe erst dann gesehen werde, wenn man in eine gewisse Tiefe schaue.

Zu dieser Erkenntniß sind die Physiker erst durch einen Versuch von Bunsen gelangt, der in eine mit destilliertem Wasser gefüllte Röhre ein Stück weißes Porzellan fallen ließ und sich überzeugte, daß das untersinkende Stück um so blauer erschien, je tiefer es gelangte. Bunsen hatte natürlich Vorsorge getroffen, daß in seine Röhre nur weißes, von der Zimmerdecke zurückgeworfenes Licht einfallen konnte, nicht das blaue Licht vom Himmelsgewölbe. Der Versuch ist in mannigfaltiger Weise verändert, handlicher gemacht worden, aber stets hat er dasselbe Ergebniß geliefert, und heute steht es als wissenschaftliche Wahrheit fest, daß chemisch reines Wasser, das gar keine anderen Bestandtheile, weder aufgelöste noch aufgeschwemmte, enthält, eine prachtvolle, rein blaue Farbe hat.

Aber solches Wasser giebt es in der Natur nicht, denn das Regenwasser, das doch destilliertes, aus dem Meere und überall her verdunstetes Wasser ist, welches in der Gestalt von Wolken fortgeführt und in Tropfen niedergeschlagen wurde, selbst dieses Regenwasser enthält einige aufgelöste Substanzen und noch mehr mikroskopisch kleine Körperchen, die in der Luft schweben und die der Tropfen im Falle mit sich reißt.

Indessen man kann sich trösten, wenigstens hinsichtlich der aufgelösten Stoffe, an denen das Meerwasser z. B. so reich ist. Alle im Meerwasser gelösten Salze, das Kochsalz voran, sind farblos im krystallisierten Zustande und beeinträchtigen somit die Farbe des Meerwassers nicht im mindesten. Schiffer und Matrosen, obgleich in dieser Beziehung durchaus ungebildet und kenntnißlos, wissen sehr wohl, daß sie von der Küste abfahrend, nach einiger Zeit in das reine, „das blaue Wasser“ gelangen und dann über Tiefen schwimmen, bis zu deren Grund sie ihre Anker nicht hinablassen können.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_052.jpg&oldid=- (Version vom 2.7.2023)