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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

auch in sogenannter Flachschrift geschrieben werden können. Doch ist diese Schreibart für den Nichtsehenden schwieriger zu erlernen als die des Punktsystems und hat außerdem noch den Nachtheil für ihn, daß er das auf solche Weise Geschriebene nicht selbst zu lesen vermag. Aehnlich wie beim Schreiben und Lesen wendet sich die Blindenschule auch im Geographieunterricht vorwiegend an den Tastsinn der Schüler; Städte, Flüsse, Gebirge etc. werden hier auf besonders angefertigten Landkarten durch fühlbare Punkte und Linien veranschaulicht.

Das Tastvermögen befähigt ferner den Nichtsehenden zu Handarbeiten, sogar zu solchen feinerer Art, zu tüchtigen Leistungen besonders auf dem Gebiete der Korbmacherei, Seilerei, Stuhlflechterei und Bürstenbinderei. Doch ragt die Bedeutung dieses Sinnes für ihn weit über das Feld des bloß Nützlichen hinaus.

Schon manchmal konnte ich mich eines Lächelns nicht erwehren, wenn von Sehenden im Tone tiefsten Bedauerns die Behauptung ausgesprochen wurde, daß die armen Blinden doch unmöglich wissen könnten, was schön und häßlich sei. Hier tritt eben der Tastsinn ergänzend ein; ob eine menschliche Gestalt zierlich oder plump, ob eine Form ebenmäßig oder unharmonisch ist, darüber wird der Lichtlose seine fühlenden Finger befragen, und in vielen Fällen wird er ihrem Urtheil Glauben schenken dürfen. Daß der Formensinn bei vielen Blinden scharf ausgeprägt ist, das beweist ihre große Vorliebe für plastische Figuren, Köpfe etc., welch letztere von einzelnen sogar auf Geldstücken richtig erkannt werden. Freilich, soviel ist richtig, daß wir uns über menschliche Schönheit keinen klaren Begriff zu bilden vermögen, da die edlen Verhältnisse eines Antlitzes, der vielgerühmte Glanz der Augen, die Macht des menschlichen Blickes überhaupt außer dem Bereich unserer Wahrnehmung liegen. Doch bedingt das keineswegs, daß der Unterschied von schönen und häßlichen Menschen für uns gar nicht vorhanden ist. In die Klasse der ersteren werden wir vielmehr diejenigen rechnen, denen eine sympathische Stimme, eine zierliche Gestalt, schön geformte Hände, weiches Haar, ein leichter Gang eigen ist, oder die wenigstens einige dieser Merkmale besitzen. Dabei kann es natürlich geschehen, daß infolge der verschiedenartigen Ausgangspunkte unsere Schönheitsbegriffe mit denen Sehender in entschiedenem Widerspruche stehen. Dem Auge des Beschauers kann z. B. ein Stoff farblos und unscheinbar dünken, der vermöge seiner Weichheit das lebhafteste Wohlgefallen unserer tastenden Hand erregt, oder es kann eine melodische, seelenvolle Stimme uns mit größter Bestimmtheit den Glauben an Schönheit da einflößen, wo der Blick des Sehenden das gerade Gegentheil hiervon wahrnimmt. Im übrigen ist die Empfänglichkeit für das Schöne und damit die Freude daran dem Nichtsehenden in keinem geringeren Maße, wenn auch hin und wider auf eine etwas andere Weise verliehen als jedem anderen mit Schönheitssinn begabten Menschen. Das gilt schon von den tausend kleinen Aeußerlichkeiten, die das Menschenleben schmücken und verschönen, es gilt aber noch in weit höherem Grade von jener idealen innerlichen Schönheit, die nur durch das Auge des Geistes, das Fühlen der Seele empfunden werden kann. Denn nicht nur der Tastsinn der Blinden zeichnet sich durch besondere Feinheit und Schärfe aus, sondern überhaupt alles, was man unter dem Worte „Gefühl“ begreift. Den Beweis hierfür liefert ihr meist treffendes Urtheil über die Gesinnungen anderer, der feine Instinkt, mit welchem sie Freundschaft von Heuchelei, wahre Herzlichkeit von Künstelei zu unterscheiden wissen, selbst dann oft, wenn ihnen nur ein geringes Maß von Welterfahrung zur Seite steht. Und alles nun, was wahr, gut und in des Wortes edelster Bedeutung schön ist, wird häufig von ihrem reicheren Seelenleben mit größerer Wärme festgehalten, als von dem des Sehenden, der über dem Blick in die mannigfaltige bunte Außenwelt so leicht den in die stillere Innenwelt versäumt. Es ließe sich noch mancherlei über das Gefühlsleben Blinder bemerken, namentlich darüber, wie es mit seiner von vielen unverstandenen Wärme und Tiefe oft ein ernsteres Verhängniß für das Leben der Lichtlosen bildet als ihr Gebrechen an sich – allein das würde über den Rahmen unserer Aufgabe hinausführen. Diese verlangt vielmehr noch ein kurzes Eingehen auf die Stellung, welche Geschmack und Geruch unter den Sinnen des Blinden einnehmen.

In Bezug auf den Geschmack ist, da wesentliche Abweichungen nicht vorhanden sind, nur wenig zu sagen. Die Annehmlichkeiten, die der Geschmack bietet, werden dem Nichtsehenden durch sein Gebrechen in keinerlei Weise verkürzt, und er wird, wie jeder andre auch, je nach seiner Veranlagung größeren oder geringeren Werth auf sie legen. Manchmal mag der Blinde den zweifelhaften Vortheil haben, daß er eine Speise, die dem Sehenden unappetitlich vorkommt, in seiner Harmlosigkeit mit der größten Gemüthsruhe verzehrt. Aber einmal über einen derartigen Irrthum aufgeklärt, wird er ihn nicht so leicht ein zweites Mal begehen, ja für einzelne Naturen kann eine solche Entdeckung Grund zu bleibendem Argwohn werden. Uns fremde Speisenbestandtheile, besonders wenn sie durch zu große Weichheit oder Fettigkeit ein unangenehmes Gefühl im Munde erzeugen, erregen in uns eine fast allgemeine Abneigung. Daß blinde Kinder äußerst empfänglich sind für Freuden des Gaumens und daß bei ihnen die Frage „Was werden wir essen? was werden wir trinken?“ eine große Rolle spielt, bedarf kaum der Erwähnung, da es ja bei dem sehenden kleinen Volk ebenso zu sein pflegt; merkwürdig und belustigend wirkt nur die fabelhafte Gedächtnißtreue, welche die lichtlosen Kinder in dieser Hinsicht an den Tag legen.

Im Interesse der Blindenwelt sei hier noch auf eine gewisse Unsicherheit hingewiesen, mit welcher sich fast sämmtliche Blinden bei Tisch in großer fremder Gesellschaft bewegen. Schwer zu schneidenden Kuchen von einem feinen platten Glasteller mit einem Löffelchen zu essen, ist für den Nichtsehenden eine wahre Folter, wenn er nicht den Muth findet, sich von seinem Nachbar das Gebäck zerkleinern zu lassen. Wie viel die Sehenden durch freundliches Entgegenkommen zur Erleichterung einer solchen peinlichen Lage beitragen können, ist klar, und doch wird es bei allem Mitleid so vielfach vergessen oder unzart angefaßt.

Was endlich den Geruchsinn des Blinden betrifft, so ist er es vor allem, welcher unsere Freude an der Natur erweitert. Die Düfte der Rose, des Veilchens, des Flieders erregen ein Gefallen wohl in jedem Menschen, aber schwerlich werden sie sonst mit dem gleichen Entzücken begrüßt wie von den Blinden.

Unsere tastende Hand schon vermag ein saftig grünes Blatt von einem welken oder welkenden sehr wohl zu unterscheiden, in noch höherem Grade geschieht das durch den Geruchsinn; daher der bei Nichtsehenden gebräuchliche Ausdruck. „Es riecht grün.“ Wo es im Blindenleben gilt, das Wesen eines Dinges oder irgend einer Masse festzustellen, da kommt es nicht selten vor, daß der Geruch um sein Urtheil befragt wird. Blinde im Naturzustande, also besonders Kinder, pflegen darum eine Sache nicht nur zu befühlen, sondern auch, unbekümmert darum, ob das gerade angebracht ist oder nicht, in möglichst nahe Berührung mit der Nase zu bringen. Aus meiner frühesten Kindheit erinnere ich mich der Thatsache, daß ich regelmäßig vor dem ersten Besuch in irgend einem Hause anderen und mir die Frage stellte: „Wie wird es dort wohl riechen?“ Um des lieben Anstandes willen muß der Lichtlose lernen, den Gebrauch seines Geruch– und selbst den seines Tastsinnes auf ein gewisses Maß zu beschränken. Da nun hierin ein Verzicht auf mancherlei Wahrnehmungen, also etwas der menschlichen Natur Widerstrebendes liegt, so fällt jener Zwang vielen nicht leicht. Der Sehende sollte indessen, anstatt in dem unzeitigen Umhertasten einzelner kurzweg eine üble Angewohnheit zu erblicken, rücksichtsvoll bedenken, daß wir nur auf diesem Wege uns zurechtzufinden vermögen. –

Damit bin ich am Ziele meiner Aufgabe angelangt, und ich möchte zum Schlusse nur noch einem Mißverständniß vorbeugen, das diese Zeilen da oder dort hervorrufen könnten. In dankbarer Freude über das, was ein gütiges Geschick uns gelassen hat, über den Ersatz, den es uns durch Schärfung unserer gesunden Sinne in mancher Beziehung gewährt, sind diese Schilderungen entstanden. Darüber darf der Leser aber nicht das eine vergessen, daß das Geschick zwar viel uns ließ, aber auch viel nahm, daß trotz der Schärfe unserer gesunden Sinne die Blindheit niemals aufhört, ein Unglück für uns zu sein. Der Mangel des Augenlichtes umgiebt uns mit tausend Schranken, erschwert unser Arbeiten und läßt uns die Abhängigkeit von anderen oft in recht schmerzlicher Weise empfinden. Was jene Schranken, wenn auch nicht aufheben, so doch weiter hinausrücken, jene Schwierigkeiten erleichtern, die Schmerzen mindern kann, das zu untersuchen und das Erprobte durchführen zu helfen, ist Sache jedes echten Menschenfreundes.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_051.jpg&oldid=- (Version vom 1.7.2023)