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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


Nach Feierabend.
Nach einem Gemälde von K. Hartmann.


Die Tochter des Sanitätsraths stand einen Augenblick ganz starr vor Ueberraschung da; in der nächsten Minute aber rannte sie wie toll in das Arbeitszimmer ihres Vaters mit dem Alarmruf. „Sie geht mit uns! Sie opfert sich! Sie begleitet uns!“

Horst erschien gleich darauf mit seiner aufgeregten Tochter im Salon, um Bettina zu fragen, ob sie ernstlich gewillt sei, mit an die See zu gehen. Bettina erwiderte, daß sie ihrem Vormund sehr dankbar sein würde, wenn er sie mitnehmen wollte.

„Von Herzen gern,“ antwortete dieser, „allein das Lotsendorf, wohin wir gehen, ist der einsamste Ort der ganzen Küste.“

„Ich bedarf der Einsamkeit.“

„Aber wird Ihre Mama Sie freigeben, liebe Bettina?“

„Im Nothfall sprichst Du ein Machtwort, Papa. Wozu bist Du denn Vormund?“

Der Arzt lächelte über den Eifer seiner entschlossenen Tochter und meinte, Bettina solle erst bitten, und fruchte das nichts, so wolle er am Abend bei Frau Rosita vorsprechen und sie umzustimmen suchen.

Bettina versprach, Botschaft zu senden, und verließ in großer Erregung das Haus. Die Aussicht, mit der Freundin an der See leben zu können, erschien ihr so verlockend, daß sie hätte aufjubeln mögen. Nur die Furcht vor einem Nein der Stiefmutter dämpfte ihre Freude; trotzdem beschloß sie, die Sache gleich zur Entscheidung zu bringen. Bei den ersten Worten hatte Frau Rosita die Bittstellerin mit einem finsteren Blicke gemessen, dann aber, als sie erkannte, um was es sich handle, athmete sie plötzlich auf, ihre Augen leuchteten, ihr Gesicht verklärte sich. Als die Sprecherin zu Ende war, nahm sie wieder eine Leidensmiene an und antwortete im Tone der Klage. „Du weißt, mein liebes Kind, wie gern ich jeden Deiner Wünsche erfülle, soweit dies in meiner Macht steht. Ich werde Deine Gegenwart in Baden schmerzlich vermissen, allein ich begreife vollkommen, daß Du die Gesellschaft einer munteren Jugendfreundin der einer einsamen Witwe vorziehst. Außerdem glaube ich, daß die Seeluft Deine blassen Wangen rascher röthen wird als die des Schwarzwalds. So sage ich denn ‚ja‘ – geh’, mein Kind, und rüste Dich zur Abfahrt! Die Vorkehrungen für die Sicherheit unserer Wohnung treffe ich allein.“

Bettina war gerührt von dieser selbstlosen Willfährigkeit, und als Rosita sie am nächsten Morgen zum Bahnhof brachte, ihr dort eine Purpurrose ins Knopfloch des Mantels steckte und sie der Fürsorge Horsts mit mütterlicher Zärtlichkeit empfahl, wurde das Mädchen irre und warf sich das Unrecht vor, am Herzen dieser Frau gezweifelt zu haben. „Sie mag nervös und launenhaft sein,“ sagte sie sich, „aber sicher liebt sie Dich und ist keine Heuchlerin.^

Frau Rosita blieb auf dem Bahnsteig stehen und winkte den Scheidenden Abschiedsgrüße zu, bis der Zug ihren Blicken entschwunden war, dann aber wandte sie sich rasch mit einem Ausruf der Erleichterung zum Gehen. Am Abend desselben Tages fuhr sie strahlend vor Heiterkeit und freudiger Erwartung dem fernen Baden zu, und als die letzten Häuser Berlins hinter ihr lagen, murmelte sie vor sich hin: „Gott sei Dank, nun bin ich frei! Meine Geduld war nahezu erschöpft!“

*      *      *

Zur selben Zeit hatten die Horsts und Bettina bereits die Küste erreicht und befanden sich seit zwei Stunden an Bord eines kleinen Dampfers, der in flottem Lauf über ein weites Haff hinfuhr. Noch war das offene Meer nicht in Sicht, und Bettinas Auge schweifte über Wiesenflächen und weidende Heerden, über Dörfer und Kirchthürme bis zu blauen, bewaldeten Höben hin; doch schon verspürte sie den frischen Hauch des Meeres, und ihre Brust hob sich erleichterter, ihre Seele wurde freier.

Die Reisenden hatten im Schatten des Leinwanddaches ein recht schmackhaftes Gericht aus der Schiffsküche verzehrt, und als sie beim Kaffee angelangt waren, bat ein Herr um die Erlaubniß, mit seiner Gattin die noch vorhandenen freien Plätze in der Tafelrunde einnehmen zu dürfen. Während das Ehepaar sich niederließ und dem Kellner einen Auftrag gab, erkannten die Freundinnen in dem Fremden einen Schauspieler Namens Ludmiller, den sie im vergangenen Winter als Hamlet bewundert hatten. Zu ihrer Ueberraschung entpuppte sich der Tragöde als ein munterer Plauderer, der sich durch ein Taschenspielerkunststück einführte. Als ihm der Kellner ein etwas klein gerathenes Beefsteak vorsetzte, betrachtete er es von allen Seiten, schüttelte trübe

den Kopf und wandte sich an den zwölfjährigen Fredi Horst mit der Bemerkung: „Sie werden dem Wirth nachher bezeugen, junger

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_045.jpg&oldid=- (Version vom 11.2.2019)