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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

ihnen, das lehrt uns ein Wiedersehen mit alten Freunden oft genug.

Aber nicht immer. Es giebt doch auch dauerhafte Naturen, welche getrost einmal anderthalb Jahrzehnte überschlagen und trotzdem darauf rechnen können, nach dieser Frist wieder als die Alten erkannt zu werden.

So dürften manche Leser der „Gartenlaube" ohne Schwierigkeit ein früher im „ersten Jahr des neuen Haushalts“ beobachtetes Paar wiederfinden, wenn ich sie heute in eine große süddeutsche Residenzstadt und zur Wohnung des Landgerichtsraths Walter führe. Früher, als junger Assessor, lebte er mit seiner Emmy in dem kleinen Städtchen Bergheim, nun gehört er dem Landgericht der Hauptstadt an und wohnt seit Jahren dort. Allerdings nicht in einer der vornehmen Straßen – ein Krösus ist er trotz der Gehaltsaufbesserung nicht geworden – sondern in einem vielstöckigen hellgetünchten Hause jener großen Straßenzüge, die soviel menschliches Glück und Elend mit ihren gleichförmigen Fassaden decken.

Wir betreten an einem naßkalten Novemberabend den von flackernder Gasflamme erleuchteten Hausflur, steigen drei schmucklose Treppen hinauf, welche offenbar den Unterschied zwischen Herrschafts- und Dienstbotenfüßen nicht kennen, öffnen mittels des bekannten Autorenhauptschlüssels die braunlackierte Vorthür mit dem kleinen blankgeputzten Messingschild, sehen noch mit einem Blick, wie gut auf dem Vorplatze der sparsame Raum ausgenutzt ist, wie große und kleine Ueberzieher, Hüte und Schirme in strenger Ordnung dahängen, und dazwischen ein hübsches Spiegelgestell dem Ganzen eine gewisse bescheidene Eleganz verleiht. Dann machen wir leise die Thüre auf und treten in das behaglich erwärmte Wohnzimmer.

Von der Decke hängt eine große Schirmlampe nieder und ergießt einen hellen Lichtkreis auf den runden Tisch und die darum gereihten blonden und braunen Köpfe. Es ist merkwürdig stille im Zimmer, die Kinder beugen sich lesend und lernend über ihre Bücher, die Mutter schreibt einen Brief, „ausnahmsweise," wie sie zu sagen pflegt, wenn ein später Besucher sich zu dieser Stunde noch einfindet.

Aber das ist nicht ganz wörtlich zu nehmen. Frau Emmy gehört nicht zu denjenigen, welche über Kochlöffel und Nähmaschine die Schreibfeder vergessen; ihrer lebhaften Natur war allezeit Mittheilung Bedürfniß, und so wie sie selbst an dem Schicksal ihrer fernen Freunde aufs eingehendste theilnimmt, so erzählt auch sie brieflich leicht und gern von allem, was Haus und Herz bewegt. Wie sie so dasitzt, den gesenkten Kopf mit dem kleidsam aufgesteckten Blondhaar über das Papier gebeugt, sehen ihre Züge noch jugendlich und hübsch aus. Die Figur ist fraulich gerundet, wie es der Mutter heranwachsender Kinder zukommt, aber nicht soviel, daß man die ursprüngliche Schlankheit verkennen könnte.

Jetzt schlägt sie zwei schöne braune Augen von dem Blatt in die Höhe. Der Brief an eine Berliner Freundin, der erste nach längerer Zeit, ist bis zu der Stelle gediehen, wo eine Charakteristik der Kinder und ihrer Entwicklung dringend geboten erscheint.

Emmy wirft einen prüfenden Blick auf ihre Aelteste, die dreizehnjährige Elisabeth, deren rundes Gesichtchen sich allsogleich wie unter einem magnetischen Einfluß vom Buche emporhebt ... Nein – „apart“ kann man sie wirklich nicht nennen, das muß sich Emmy wieder einmal gestehen, obwohl gerade so ungern wie alle vorhergehenden Male. Sie wäre so glücklich über eine „eigenartige“ Tochter, über eines von jenen Wesen mit unergründlich dunkeln Augen und Wimpern unter einem Wald von köstlich hellblonden Haaren, deren Fülle, nur mühsam gebändigt, in schweren Zöpfen den Kopf umgiebt oder auch in großen Wellen von den Schultern zum Gürtel herabfließt, nicht zu vergessen die „goldenen eigensinnigen Löckchen, welche sich jeder Bürste zum Trotz um Stirn und Nacken krausen“ – eines jener Elfenkinder, die in Romanen so häufig wachsen, dagegen in den mittleren Schulklassen so merkwürdig selten anzutreffen sind. Bei Elisabeth kraust sich nichts um die blanke runde Kinderstirn und von Elfenart ist an ihrem wohlgenährten Persönchen nicht das Geringste zu spüren.

Zwischen festen rothen Backen schaut ein kleines Stumpfnäschen heraus, die blaugrauen Augen sind weder groß noch unergründlich, und um den im Rücken hängenden strohblonden Zopf zu „bändigen“, hat es sicher keiner großen Gewalt bedurft.

So steht das „Aparte“ der äußeren Erscheinung auf schwachen Füßen, aber auch das Innere will sich nicht so eigenartig entwickeln, wie Emmy es ums Leben gern hätte. Keine plötzlichen Einfälle, welche die Besucher in Erstaunen setzen, keine Neigung, auf Dächer und Bäume zu klettern, um sich dann von einem sechzehnjährigen Nachbarssohn herunterbeschwören zu lassen und erst recht nicht zu kommen – nein, von alledem ist in Elsbeth keine Spur. Schlicht und recht, ein braves Schulkind, geht sie dahin und den Buben aus dem Wege, denn von dieser Sorte hat sie an den zwei Brüdern übergenug. Sie erröthet stark und macht ein linkisches Knixchen, wenn sie im Salon der Mama Fremden die Hand geben muß – weiter weiß niemand etwas von ihr zu melden.

„Sie ist ein braves, liebes Kind, welches uns viele Freude macht –“ Emmy, auf die wieder ins Buch vertiefte Elsbeth blickend, findet mit einem leisen Seufzer, daß hiermit der Wahrheit Genüge geschehen sei, setzt also einen Punkt, wo sich doch gar zu gern ein schmückender Nachsatz ihrer Feder entrungen hätte.

Und Fritz, der Zwölfjährige – „bedeutend“? ... Nein – bedeutend kann man auch ihn nicht nennen, den braunen kurzgeschorenen Kopf mit der schmalen Stirn und den nüchtern blickenden Augen. Diese gleichen in der Form denen ihres Gatten, aber sie haben nicht soviel Glanz und Lebhaftigkeit – natürlich, die armen Kinder werden ja so mit Schularbeit überbürdet, daß ihnen die Frische zeitig vergeht!

„Geistige Interessen“? Ja wohl, die hat er, nicht gerade für die lateinische Grammatik, aber für Naturwissenschaft. Den Anfangsgründen von Physik und Chemie in Gestalt von Knallerbsen und bengalischen Lichtern hat er schon manches Zehnpfennigstück geopfert, auch eine wirklich genial ausgedachte telephonische Leitung aus Bindfäden und Schachteldeckeln hat er konstruiert. Elsbeth und die Köchin können bezeugen, daß man „es“ im Anfang ganz deutlich hörte; als der Papa dazu kam, versagte freilich die Leitung und Fritz verlor die Lust, ein zweiter Edison zu werden. Er warf sich auf die Geographie und ist bereits beim sechsten Band Jules Verne angelangt. Seine ganze Seele befindet sich in diesem Augenblick „zwanzigtausend Meilen unterm Meer“ bei dem geheimnißvollen Kapitän Nemo, und während der seltenen Besinnungspausen, die ihm das athemlose Durchrasen des Buches gestattet, fragt sich Fritz in höchster Spannung, wie nur der unglückliche Reisende schließlich wieder ans Tageslicht gelangen werde? Denn daß er dies thut, hat ihm ein beruhigender Blick auf die letzte Seite gezeigt.

„Ein gescheiter Junge“ – ja, das kann das mütterliche Gewissen verantworten, und nun geht die Feder rasch an Moritz, dem Achtjährigen, vorbei, an dem wirklich außer einem eifrigen Schling- und einem vorzüglichen Verdauungsapparat nichts Besonderes hervorzuheben wäre, und verweilt bei dem „süßen kleinen Ding, unserem Goldmäuschen Maja.“

Ein zärtlicher Blick fliegt über den Tisch, taucht in die runden großen Kinderaugen wie in zwei Brunnen der Begeisterung, und die Feder der glücklichen Mutter ergeht sich in begeisterter Schilderung ihres Lieblings: „Dein Pathchen, meine Herzensmarie, hat braune Kraushaare und köstliche dunkle Augen, dazu ein süßes Gesichtchen mit dem unschuldig staunenden Ausdruck, der die kleinen Kinder so entzückend macht. Maja ist für ihre drei Jahre merkwürdig überlegt, plaudert herzig und geht als allgemeiner Liebling unter uns umher. Besonders Hugo ist geradezu verliebt in dieses Nesthäkchen, dessen Ankunft ihm damals so gar überflüssig erschien! Das ist nun ein großes Glück, denn im übrigen hat er manchmal Stunden der Entmuthigung, wenn er an die Zukunft denkt – viere sind ja auch ein bißchen viel für unsere Verhältnisse! und es kommt noch so mancherlei dazu! Dir will ich es ganz im Vertrauen sagen, meine Marie, er hat manchmal das Gefühl, an höherer Stelle nicht nach seinem vollen Werth geschätzt zu werden. Und hierin kann ich ihm nicht unrecht geben.

Als wir vor acht Jahren hierher kamen, war der Minister ungeheuer freundlich gegen ihn; es wurde uns gesagt, die Excellenz beabsichtige, Hugo als Referenten ins Ministerium hereinzuziehen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_018.jpg&oldid=- (Version vom 1.7.2023)