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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

immer heimlich bangte, wieder einmal glücklich umsegelt worden war! –

Solche Gedanken beschäftigten Herrn Grimm wieder, als er jetzt schweigsam neben Gerda einherwandelte. Sie hatten den Alten Jungfernstieg umgangen und bogen nun in den Alsterdamm ein. Noch wimmelte die Binnenalster von Schlittschuhläufern, aber das Vergnügen konnte für heute nicht lange mehr dauern – bereits senkten sich die ersten Schatten der rasch hereinbrechenden Winterdämmerung herab.

„Warum bist Du eigentlich heute nicht auf dem Eis gewesen, Kind?“ unterbrach Grimm endlich das Schweigen. „Es ist ja kostbares Wetter dazu!“

„Ich, Onkelchen? Ja – Wolfgang konnte heute nicht kommen und Georg auch nicht – und allein –“

„Du würdest doch noch andere Bekannte dort gefunden haben.“

„Meinen Sie?“ fragte Gerda so nachdenklich, als handle es sich um ein großes Problem.

„Hat man Dich nicht auch zu der großen Schlittenfahrt aufgefordert, die heute früh stattfand?“

„Ja, Onkel!“

„Nun? Und Du hast abgelehnt, ohne mich vorher nur gefragt zu haben? Ich hätte Dir’s erlaubt, mitzufahren!“

„Ja, ich weiß wohl. Aber ich wollte viel lieber zu Hause bleiben!“

Grimm schüttelte unwillig den weißen Kopf.

„Wo sollte denn die Fahrt eigentlich hingehen?“

„Ich weiß nicht!“

„Mit wem ist denn Stella gefahren? Mit Andree?“

„Nein – ich denke, mit dem jungen Leskow!“

„Sie müssen wohl bald zurückkommen – oder wollten sie bis zum Abend fortbleiben?“

„Bewahre! Stella hat ja eine Loge im Theater bestellt – sie geben ein Stück aus dem Französischen – ich hab’ den Titel augenblicklich vergessen, ich glaube, es hängt mit einem Prozeß zusammen!“

„So so!“ sagte Gerdas Begleiter zerstreut – dann plötzlich aufmerksamer werdend: „Sind das nicht Schlittenglocken – viele auf einmal? Steh’ einen Augenblick still! Können sie das nicht sein?“

Ja, sie waren es! Mit einem lustigen, hellen Geläut, mit unternehmendem Peitschenknall kam es durch die reine, frische Winterluft heran, immer ein Schlitten nach dem andern, vier – fünf – sechs – man hörte Lachen und Scherzen, Federn nickten, Schleier wehten, die Pferdehufe stampften in den weißen, zerstäubenden Schnee – und wie ein Traumgesicht war alles vorbei!

Aus einem der Schlitten hatte ein Herr die beiden gegrüßt – es war Andree.

„Hast Du ihn gesehen, Gerda? Mir kam es vor – aber ich kann mich irren, es ging ja wie im Fluge – als hätte er bedenklich finster ausgesehen. Schien es Dir auch so?“

„Ja,“ sagte Gerda zögernd, „mir schien es auch so!“

Schweigend gingen die beiden ihrer Behausung zu.

Oben kam ihnen Frau Müller entgegen.

„Schön, daß Sie da sind, gerade ist der Kaffee fertig - mit Berliner Pfannkuchen, Gerdachen! Was ich sagen wollte – ich hab’ gleich ein paar Tassen mehr gemacht, Herr Andree ist nämlich da, er sitzt drinnen im Wohnzimmer. Er kam herauf und fragte, ob die Herrschaften zum Kaffee nach Hause kämen – er hätte sie auf der Straße gesehen!“

Herr Grimm nickte Frau Müller zu und öffnete die Thür zum Wohnzimmer – ja, da saß Andree auf einem Lehnsessel am Tisch, und Hafis lag lang ausgestreckt auf dem Sofa und schlief.

„Nun, das ist recht, Andree!“ rief Herr Grimm freundlich und schüttelte seinem Besuch die Hand. „Frau Müller, die Lampen! Mein Töchterchen und ich wollen nur unsere Hüllen ablegen, dann sind wir bei Ihnen, und es soll ein gemüthliches Kaffeestündchen werden!“

„Und nach demselben möchte ich Sie um ein paar Worte unter vier Augen bitten!“ sagte Andree leise.

Die Lampen wurden gebracht, der herrlich duftende Kaffee, die warmen Pfannkuchen dazu – aber zu dem „behaglichen Kaffeestündchen“, das der Hausherr prophezeit hatte, wollte es doch nicht kommen. Andree saß finster und schweigsam da, er hob selten die Augen von seiner Tasse, und zuweilen überhörte er es, wenn Grimm mit ihm sprach. Gerda trank ihren Kaffee beinahe brühend heiß hinunter, sie konnte nicht früh genug fortkommen, um die beiden allein zu lassen. Als ihr Pflegevater sich wunderte, daß sie so eilig sei, sagte sie, sie habe für morgen noch viel zu thun, und weg war sie.

Herr Grimm streichelte seinen Hafis und wartete ab, bis Andree reden würde.

„Lieber Freund,“ begann dieser endlich mit derselben gedämpften Stimme wie zuvor, „es ist mir aufgefallen, und ich finde es sehr merkwürdig: Sie haben mir bisher in der ganzen langen Zeit noch mit keinem Wort zu meiner Verlobung gratuliert!“

„Habe ich nicht?“ murmelte Herr Grimm verlegen.

„O, Sie wissen es ebenso genau wie ich!“

Das stimmte, und Herr Grimm sah schuldbewußt aus und fuhr fort, Hafis zu streicheln.

„Warum thaten Sie es also nicht?“ fuhr Andree ruhig fort.

Der ältere Mann wiegte unmuthig den Kopf.

„Das wird ein peinliches Gespräch, mein bester Andree, und ich wollte, ich könnte es uns beiden ersparen – ich habe es bis jetzt immer vermieden.“

„Ganz recht! Das thaten Sie! Jetzt geht das aber nicht länger!“

„Gut also! Was wünschen Sie nun von mir?“

„Zunächst wünsche ich zu wissen, was Sie über diese meine Verlobung denken – die volle Wahrheit, versteht sich!“

Herr Grimm wurde unruhig.

„Mein Lieber, das ist eine seltsame Zumuthung! Die Wahrheit! Ja – weiß ich denn, ob das, was ich nach meiner unmaßgeblichen Meinung dafür halte, die einzige, die richtige Wahrheit ist? Ich bin auch nur ein Mensch und kann irren! ‚Was ist Wahrheit?‘ hat schon Pilatus gefragt.“

„Sie sollen mir das sagen, was Sie, nach Ihrer eigenen Auffassung, für die volle Wahrheit halten!“

Der weißhaarige Herr, so in die Enge getrieben, faßte einen kurzen Entschluß.

„Nun denn – Sie haben es gewollt! Ich habe mich über diese Verlobung nicht freuen, ich habe Ihnen nicht dazu Glück wünschen können, weil ich Sie lieb habe und mir von dieser Verbindung kein Glück für Sie verspreche. Sie und Stella passen durchaus nicht zusammen – Ihre Braut ist in allen Stücken der gerade Gegensatz zu Ihnen!“

„Sie kennen sie genau?“

„Sehr genau!“

„Sie thun ihr nicht unrecht?“

„Ich denke, nein! Die Versuchung für ein so schönes, junges Geschöpf ist ja riesengroß.“

„Welche Versuchung?“

„Ein Götzenbild zu werden, sich anbeten, huldigen zu lassen und darüber desjenigen verlustig zu gehen, was, in meinen Augen wenigstens, das Weib erst zum Weibe macht!“

Er sah Andree erschrocken an – es hatte ihn wieder einmal fortgerissen, er war zu weit gegangen! Trotz seiner weißen Haare immer noch diese Unbesonnenheit!

„Und Sie meinen, ich würde nicht glücklich werden?“ brach Andree nach einer Pause das Schweigen.

„Sind Sie jetzt glücklich?“

Es kam keine Antwort.

Grimm hörte auf, Hafis zu streicheln, ergriff Andrees kalte willenlose Hand und drückte sie.

„Sehen Sie, Grimm,“ begann der Maler endlich gepreßt „diese heimliche Verlobung – und daß ich nie den stichhaltigen Grund dafür erfahre, warum sie geheim sein muß – denn sie weicht mir immer aus, wenn ich sie frage, und wir sind ja auch nie mehr allein, nicht einmal auf fünf Minuten! Ich hatte gehofft, wir würden heute bei der Schlittenpartie zusammen fahren, aber nein! Sie meinte, es könnte auffallen …“

„Lassen Sie die Ausstellung herankommen!“ suchte Grimm ihn zu ermuthigen. „Das Bild, – es ist ja ein Kunstwerk ersten Ranges, nach meiner Ansicht – es wird packen, wird zünden – nun, und das wird Ihnen helfen! Stella ist für Aeußerlichkeiten, Erfolg, Aufsehen empfänglich, es wird ihr schmeicheln – –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 863. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_863.jpg&oldid=- (Version vom 24.11.2023)