Seite:Die Gartenlaube (1891) 831.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

schüchternen Goetheverehrerin ebensogern gefallen ließ wie unser späterer Nachbar, der alte Rath Ludecus. Wie viel danke ich diesen beiden Männern!

Sehr bald hatte mich meine kleine Freundin in ihrer schnellen, fast, befehlenden Weise gefragt: „Wie heißt Du?“ Ich aber wagte lange nicht, die gleiche so natürliche Frage an sie zu richten. Sie hieß Goethe, das war mir genug. Einmal, in Großpapas Garten, – es muß damals mit unserem Besuch desselben eine besondere, geheime Bewandtniß gehabt haben, denn ich erinnere mich, daß wir nicht, wie es sich gehört, zur Thür hineingekommen, sondern von der Rückseite über Zaun und Mauer hineingeklettert waren – unter dem Pflücken von Veilchen, die wie ein blauer Hauch die Wiesen bedeckten, fragte ich sie um ihren Namen. Seit jenem Tage umduftet es mich stets wie Veilchen, wenn ich den Namen Alma höre.

Nie bin ich in ihrem Hause gewesen, sie selten in dem meinen. Wir verabredeten uns auch nicht, uns zu treffen, aber wir sahen uns überall; sommers im Garten unter Holunderbüschen und Flieder, im Winter auf dem Schwansee beim fröhlichen Schlittschuhlauf, da

Das Denkmal von Goethes Enkelin Alma im Goethehause zu Weimar.

natürlich seltener als in der sonnigen Zeit.

Ich weiß nicht, ob dies Zusammenleben ein oder zwei Jahre währte. Ich weiß nur, daß ich, als es wieder einmal Sommer wurde, Alma immer weniger sah. Sie war sehr groß geworden und erschien mir in ihrer neuem Haarfrisur und in den längeren Kleidern sehr fremd. Ich habe das Gefühl lange Jahre nicht los werden können, als ob sie, trotz immer herzlicher Beziehungen, mir eigentlich in jenen Tagen gestorben sei. Die Menschen nannten sie damals häßlich, aber es war nur das Herbe, Fremde an ihr, was die meisten abstieß. Für mich war sie immer schön; ich sah nur ihre großen, flammenden Augen und die immer deutlicher hervortretende Ähnlichkeit mit dem Großpapa.

Wir zogen aus dem alten, lieben Hause weg, und bald darauf, nach kurzem Abschied, ging Alma nach Wien. Ich habe tiefes Leid um sie getragen. Einmal ist sie noch von dort nach Weimar zurückgekehrt, mich fesselte schwere Krankheit ans Haus, ich habe sie nicht gesehen. Medizinalrath Vulpins erzählte mir, zu welcher frischen, lebenskräftigen Jungfrau sie damals erblüht gewesen sei und in welch herzinniger Freude sie die Aufmerksamkeit genoß, die ihr von allen Seiten geschenkt wurde. Auch, daß der Abschied von Weimar ihr damals so schwer geworden sei, als hätte sie geahnt, daß sie ihre Vaterstadt nicht wieder sehen sollte. Bald – in der Erinnerung erscheint es mir, als wenn es kaum nach Jahresfrist gewesen wäre – kam die Kunde von ihrem frühen Tode, von dem die Sage allerhand Außergewöhnliches zu erzählen wußte. Leicht hätte ich damals von dem alten Bibliothekar Kräuter, dem ich durch die befreundete Familie Keil nahe stand, Genaueres über ihren Tod hören können, aber ich vermochte es nicht über mich, von ihr zu sprechen. Ich ging der Esplanade entlang, viele Tage hintereinander, und starrte auf das kleine Balkönchen, auf dem sie mir zuerst erschienen war, und hielt ihr Bild von damals fest für alle Zeiten. Denn wir Menschen von Weimar aus jener alten Zeit sind fest verwachsen mit unseren Kinderträumen und mit unseren Schwärmereien.

Ich halbe durch mein ganzes Leben treulich meine Weimaraner Erinnerungen gepflegt; ich habe alles gethan, was in meinen Kräften stand, um die Unsterblichen meiner Vaterstadt zu ehren, ihnen Priester zu werben in der Heimath und in der Fremde. Denn die Gemeinde ihrer Gläubigen ist noch lange nicht so groß, zumal unter der Frauenwelt, wie sie sein müßte. Wie in meinen Kinderjahren trat später noch einmal eine unmittelbare Berührung mit Familiengliedern unserer großen Weimarer Toten in mein Leben. Ich bewahre einen Brief von Schillers Tochter Emilie, Frau von Gleichen-Rußwurm, aus deren letzten Lebensjahren, in welchem sie mir dankt für alles, was ich in den Niederlanden durch meine öffentliche Lehrtätigkeit für Schiller gethan habe. Und 1876 schickte mir Schillers Enkel zwei Kränze, einen von rothen, den andern von weißen Rosen, damit ich sie in Bonn auf die Gräber seiner Großmutter und seines Onkels, der Gattin Schillers und ihres Sohnes, am 50. Todestag der ersteren niederlege.

Eine Versammlung der Goethegesellschaft rief mich 1887 nach dem geliebten Weimar, wo die alten Erinnerungen von den echten Erben Karl Augusts und der unvergeßlichen Anna Amalia treu gepflegt werden, wo die Frau Großherzogin das geistige Erbtheil Goethes in der ihr eignen geistesklaren Weise hütet. Das Goethehaus war uns wieder geöffnet.

Nicht mit den anderen allein betrat ich alle die theuren Erinnerungsstätten. Da sah ich auch Almas geliebtes Kinderbild, wie ich es einst gekonnt hatte. Ich ging zu ihr, die ich einst so sehr geliebt, die ich nie vergessen habe, zu Alma von Goethe. Denn sie ist heimgebracht worden aus dem fremden Wien, nahe beim Großpapa schläft sie ihren stolzen Jugendtraum – ich kannte ihn wohl auf Deutschlands geweihtestem Fleck Erde aus. Ich holte ihr Blüthen und Blätter aus Großpapas Garten, Maßlieb von der Wiese nebenan, denn die Veilchen waren schon verblüht, und streute sie über das Gitter, auf den Hügel. Mir war, als müsse sie fühlen, daß ein Herz ihrer gedenke, das sie geliebt hat in den Tagen ihrer schönen Kindheit und ersten Jugend, das mit ihr geschwärmt hat von „ihrem Großpapa“.

Und vor Monaten ging ich wieder auf jenem theuren Wallfahrtsweg in Weimar. Im Goethemuseum war in einem kapellenartig hergerichteten Raume das Marmorbild der geliebten Toten aufgestellt. Im Jahre 1848 hatte es die Mutter in Rom von der Bildhauerin J. A. Jerichau anfertigen lassen. Lange danach, 1871, ist es an den Bruder Almas gesandt worden, der mit der Erinnerung an die Schwester einen heiligen Herzenskultus trieb und sich scheute, aus Furcht, das geliebte Marmorbild beschädigt zu erblicken, die dasselbe umschließende Kiste zu eröffnen. Jetzt, nach seinem Tode, war es seiner Hülle entnommen und im Goethemuseum aufgestellt worden. Welche Gefühle strömten auf mich ein, als ich die mit Blumen spielende, schlafende Gestalt erblickte! Das weiche, lebenswarme Antlitz vom letzten Abschied in den Kinderjahren und dies klassische, marmorweiße und marmorkalte wollten anfangs in meiner Erinnerung nicht zu einem Bilde verschmelzen; auch viel größer erschien sie mir – aber dann, als ich mit ihr allein war, als ich Rosen über sie hinstreute, da war es, als durchhauche das alte Bild der Verklärten den starren Stein, als sei sie es wirklich, die wie der Bergmann aus Falun in unberührter Schöne und Jugend da vor der im Zeitenstrom gealterten Jugendfreundin so friedlich schlafe!



Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 831. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_831.jpg&oldid=- (Version vom 18.11.2023)