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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

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Polizei und Verbrecherthum der Reichshauptstadt.

Von Paul Lindenberg. Mit Abbildungen von L. Manzel
IV.
Einbrecher und Diebe. – Der „Corpsgeist“. – Gaunerrothwelsch und Verbrechernamen.

Es giebt in Berlin keine gewerbsmäßigen Räuber und Mörder“ – so erklärte vor einigen Jahren anläßlich des Dickhoffschen Mordprozesses ein ebenso gewiegter wie mit den Nachtseiten der Residenz vertrauter Kriminalist, und seine Worte kennzeichnen das Berliner Verbrecherthum vollkommen zutreffend. Den eigentlichen „Kern“ des letzteren bilden die Diebe, welche sich in die verschiedensten Klassen und Gruppen theilen, vom verwegenen Einbrecher an, der planmäßig, nach wochenlangen Vorarbeiten, mit mehreren Gefährten den nächtlichen Angriff auf die eisengepanzerten Geldschränke eines Bankhauses unternimmt, bis zu dem gewohnheitsmäßigen Gelegenheitsdieb, der von früh bis spät durch die Straßen streift und aufmerksam seine Augen umherwandern läßt, wo er durch einen geschickten schnellen Griff irgend einen Gegenstand in seine Taschen oder Mantelfalten verschwinden lassen kann. Ein zu Raubzwecken vorher ausgeklügelter und entschlossen durchgeführter Mord kommt äußerst selten in Berlin vor; die Mordthaten werden zumeist von Einbrechern begangen, die bei ihrem dunklen Werke überrascht werden und keinen anderen Ausweg mehr finden können, als über die Körper der Entdecker hinweg. Aber auch dies geschieht nur im alleräußersten Falle und nur von seiten der tollkühnsten Verbrecher, die bei Ertappung wegen ihrer Vorstrafen eine langjährige Zuchthausstrafe zu gewärtigen haben und aus diesem Grunde vor dem Furchtbarsten nicht scheuen. Die Mehrzahl der Berliner Verbrecher schreckt vor Blut zurück. Ein großer Theil der jährlich in Berlin vorkommenden Mordthaten hat mit der gewohnheitsmäßigen Verbrecherwelt nichts zu thun; Haß, Neid, Eifersucht, Rache, Jähzorn, Verzweiflung sind in den weitaus meisten Fällen die Beweggründe.

Daß die Zahl der Verbrecher in Berlin eine so beträchtliche ist, liegt in dem Wesen der Millionenstadt, in der Masse fremder, unruhiger, verkommener oder unglücklicher Existenzen, welche hier zusammenströmen.

Aus diesen sich in die ansässige Bevölkerung mischenden Bestandtheilen erhält die Berliner Verbrecherwelt ihren wesentlichen Zuzug, und wer erst in ihren Bannkreis gezogen ist, der entrinnt ihm in den seltensten Fällen. Da kommt ein junger Mensch nach Berlin, er versucht alles, um eine Unterkunft zu finden, täglich sieht er die Zeitungen nach ausgeschriebenen Stellen durch, und täglich wandert er in athemloser Hast und Aufregung durch Berlin, um abends erfolglos zu seiner Schlafstätte zurückzukehren: der Mitbewerber waren zu viele! Die mitgebrachte geringe Barschaft geht auf die Neige, hatte er vorher vielleicht ein kleines Zimmerchen gemiethet, so muß er jetzt mit einer Schlafstelle vorlieb nehmen und dementsprechend auch geringere Lokale besuchen, um seinen Durst und Hunger zu stillen; an beiden Orten schließt er leicht Bekanntschaften mit Leuten, die schon einen Schritt abseits vom Wege gethan, und ihre bald aufreizenden, bald verlockenden Reden finden ein willfähriges Echo in dem durch Unzufriedenheit und Entmuthigung verdüsterten Gemüth. Aber noch widerstrebt er der Versuchung, noch einmal und immer wieder bemüht er sich, eine Beschäftigung zu finden – vergebens! Verbittert und verzweifelt sucht er häufiger die Destillationen und Kellerlokale auf, um dann die Nacht, weil er die Schlafstelle nicht mehr bezahlen kann, in einer der Pennen zu verbringen; immer schlimmer ist sein Umgang geworden, immer eindringlicher ertönt die Stimme des Versuchers, bis irgend eine Gelegenheit den letzten Widerstand beseitigt: in einem Warenmagazin soll ein Diebstahl verübt werden, und er soll die gestohlenen Waren bei Seite schaffen helfen, ein ganz ungefährliches Unternehmen, welches jedoch guten Lohn verheißt, und – er schlägt ein! Damit ist er fast immer verloren für die menschliche Gesellschaft; denn wird er bei diesem ersten Versuche nicht ertappt, so findet er Gefallen an dem abenteuerlichen, verhältnißmäßig leichten Verdienst, er geräth mehr und mehr in die verbrecherischen Kreise hinein und steigt schnell vom Mithelfer zum Mitthäter „empor“ – denn auch in dieser „Laufbahn“ giebt es eine Ranggliederung – um doch über kurz oder lang mit der Polizei Bekanntschaft zu machen. Wird er aber gleich beim ersten Mal ergriffen, so ist das Ergebniß meist dasselbe, denn selbst wenn er umkehren will, ist für ihn die verbüßte Strafe ein schweres Hemmniß, außerdem aber kommt er im Gefängniß, – nach einem oft angewandten Wort – der „Hochschule der Verbrecher“, mit anderen älteren Verbrechern zusammen, wird in ihre Schliche eingeweiht, schließt mit diesem und jenem von ihnen nähere Freundschaft und wird häufig, noch hinter Schloß und Riegel, für eine neue That verpflichtet, die er dann nach der Entlassung ausführen hilft.

Wir haben nur dieses eine Beispiel, wie jemand zum Verbrecher werden kann, eingehender skizziert, wir könnten noch eine große Zahl anderer folgen lassen; nicht immer sind Noth und Elend die Beweggründe zum ersten, verhängnißvollen Schritt, oft ist es Leichtsinn und der Hang zum Wohlleben, oft eine Liebschaft oder die Sucht, es den besser gestellten Bekannten im Ausgeben von Geld gleichzuthun, oft auch nur eine günstige Gelegenheit oder endlich der angeborene Drang zum Bösen, genährt durch schlechte Lektüre und Versuchungen aller Art, denen zumal die Berliner Jugend ganz besonders ausgesetzt ist. Hieraus erklärt sich auch die große, in erschreckendem Wachsthum begriffene Menge der jugendlichen Verbrecher in Berlin, die zu den ernstesten Besorgnissen Anlaß giebt und ihre Ursache zum wesentlichen Theile in der schlimmen Beschaffenheit der Wohnungen unserer ärmeren Klassen, in dem überhandnehmenden Schlafstellenwesen hat.

So vielfache „Spezialitäten“ die Diebe auch unter sich aufweisen, so brauchen wir hier nur zwei Sorten zu unterscheiden, die der Gelegenheits- und die der Gewohnheitsdiebe. Unter den letzteren wieder stehen die auf gewaltsamen Diebstahl ausgehenden oben an, sie gehören zu den gefährlichsten Elementen Berlins und bilden den Schrecken der begüterten Einwohner. Für sie, diese Einbrecher, in der Diebssprache „Schwere Jungen“ genannt, giebt es eigentlich kein Hinderniß – im Umsehen öffnen sie die kunstvollsten Schlösser, schneiden sie Thürfüllungen aus, drücken sie mittels Terpentin- oder Pechpflasters die Fenster ein, heben sie an diesen die Eisenstäbe aus, schieben sie Jalousien empor, ja, wenn es sich um reiche Beute handelt, durchbrechen sie Mauern und bahnen sich einen Weg durch den Fußboden. Sind sie erst in den zu beraubenden Räumlichkeiten angelangt, so macht das Oeffnen der verschlossenen Schränke und Schubläden wenig Mühe mehr; entweder passen die Nachschlüssel oder es genügt ein Druck mit dem Stemmeisen, um das Ziel zu erreichen. Mehr Umstände verursachen schon die eisernen Geldspinden, aber auch ihre Panzerplatten halten, mit wenigen Ausnahmen, den kunstvollen Instrumenten der Einbrecher nicht Stand, zumal die meisten von diesen sich aufs genaueste mit den neuen Konstruktionen vertraut gemacht und – oft nur zu diesem Zweck – als Lehrlinge oder Gesellen in Schlosserwerkstätten oder Kassenfabriken gearbeitet haben. Daher rührt denn auch die Leichtigkeit und Schnelligkeit her, mit der die erfahrenen Verbrecher die Korridorthüren öffnen; hat doch ein oft bestrafter Mensch im Verlaufe des Dickhoffschen Prozesses offen eingestanden, daß er ein Schloß nur einmal genau zu betrachten brauche, um den passenden Nachschlüssel anzufertigen.

Es liegt auf der Hand, daß die Einbrecher, um alle Hindernisse schnell aus dem Wege räumen zu können, mit einem umfangreichen „Hilfsmaterial“ ausgerüstet sein müssen; zu demselben gehören neben einer größeren Zahl von Nachschlüsseln und Dietrichen sowie starken Drähten eine etwa einundeinhalb Fuß lange und höchstens zwei Zoll starke Brechstange mit breiter und scharfer Spitze, am unteren Ende etwas gebogen, dann ein Zentrumbohrer, mehrere größere und kleinere Bohrer, eine Stichsäge, ein Stemmeisen, Hammer, Zange und Nägel, Terpentinpflaster, einige Stückchen Licht nebst Streichhölzern, in einer Tasche loser Schnupftabak, um ihn den Verfolgern in die Augen zu werfen, und schließlich, als besondere Waffe, wenn als solche nicht Brechstange

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 812. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_812.jpg&oldid=- (Version vom 17.11.2023)