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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

ebenmäßigsten Schritt bis zum waghalsigsten Galopp, vorführten. Hier galt es ein sicheres Auge und eine rasche Hand – gottlob, Andree hatte beides! In äußerster Spannung folgte sein Blick diesen geschmeidigen Bewegungen, pfeilgeschwind flog seine Hand über das Papier – aber angesichts dieser Modelle bedauerte er doch, nicht eifriger seine Thierstudien fortgesetzt zu haben; es ging ihm jetzt auf diesem Gebiet ein ganz neues Verständniß auf. Unermüdlich war er in neuen Aufnahmen; die beiden Bereiter hatte er sich durch freundliches Wesen und ausgiebige Trinkgelder völlig gewonnen, sie folgten willig seinen Wünschen ohne Rücksicht auf ihre eigenen Anschauungen über das, was an den Pferden „schön“ war. Oft gesellte sich auch der holländische Herr zu der Gruppe, sah wohlgefällig auf sein kostbares Eigenthum und staunend auf den Künstler, dessen flinker Stift ihm, dem Laien, wie ein Zauberstab erschien.

Ein paar Mal war jetzt auch Herr Bernhard Grimm in Andrees Atelier erschienen. Das erste Mal, als er die halbfertige „Eos“ sah, war ein Ausdruck selbstvergessenen Staunens in sein Gesicht gekommen – er hatte sich nicht losreißen können, schien des Malers Anwesenheit ganz vergessen zu haben und lobte endlich das Gemälde mit keinem einzigen Wort. Aber Andree war nicht beleidigt darüber, im Gegentheil! Die Art, wie Herr Grimm, während sie miteinander sprachen, unverwandt die „Eos“ anstarrte, wie er in halben Sätzen sprach, sich jeden Augenblick unterbrach oder verbesserte, bis er endlich mit einer gewissen krampfhaften Energie aufsprang und sich so hinsetzte, daß er dem Bilde den Rücken zukehrte – die Art, wie er dreimal in der Thür umkehrte und dann zuletzt Andree mit seiner kleinen zierlichen Hand so kräftig die Rechte schüttelte, daß dieser zusammenzuckte – die sagte genug!

Herr Grimm war sehr aufgeräumt in dieser Zeit. „Kein Wunder!“ entgegnete er auf eine fragende Bemerkung Andrees. „Kein Wunder, mein Freund. Ich bin verjüngt – ich bin verwandelt – ich bin besser geworden. Ich habe ja jetzt ein Kind! Welche Kraft liegt doch in der Jugend! Welche Macht wohnt in solch einem kindlichen Geschöpf – wohlverstanden, wenn es uns liebt und von uns wieder geliebt wird! Und das ist hier der Fall – und wie! Sie werden sagen, das hätte ich ja schon längst haben können, wenn ich gewollt hätte, und ich könnte diesem geistreichen Ausspruch nur beistimmen. Gewiß hätte ich es gekonnt, denn meinen guten Brühl würde ich vor sechs oder acht Jahren genau so willfährig gefunden haben wie jetzt … will sagen, er hätte es damals ebenso ungern gethan wie heute, aber er hätte es eben doch gethan! Allein ich wollte nicht! Ein kleines Kind – sehen Sie, ich alter Hagestolz traute mir’s nicht zu, ein solch gebrechliches Wesen richtig zu behandeln, ich wäre immer mit Zittern und Zagen um das Geschöpf herumgegangen und hätte gar nicht recht gewagt, es anzufassen. Ich hab’ mich auch um Gerda, wie sie noch klein war, wenig gekümmert, obgleich ich sie immer im Auge behielt und stets die Idee hatte: die nimmst du dir mal! Die wird einmal später dein Kind! – Aber jetzt! Was eine richtige, gut entwickelte Knospe ist – ja, das trau’ ich mir zu, auch zum Blühen zu bringen, und hoffentlich wird’s eine hübsche Blüthe werden – Götter und Menschen zu erfreuen! Na – nicht zuviel versprechen! Wollen doch sehen! Ueber ein paar Jahre reden wir mehr davon, denn bis heute ist meine Tochter noch ein richtiger Kindskopf. Es liegt da noch alles kunterbunt bei einander, dumme Spielereien und überraschend feine und scharfe Beobachtung, alberne Nichtigkeiten und auffallender Schönheitssinn, kindische Ungezogenheit und echtes weibliches Gefühl. Seltsames Gemisch – solch ein halberwachsenes Frauenzimmerchen! Mir aber gerade interessant und anziehend!“

„Wie kam es denn, daß man Ihnen Gerda jetzt schon überließ?“ fragte Andree dazwischen, der mit großer Theilnahme zugehört hatte.

„Ja, was sollten sie machen? Die Eltern verreisen sammt dem Götzen – bitte um Entschuldigung, ich wollte sagen, sammt der Prinzessin! Mitnehmen wollen sie Gerda natürlich nicht, und sie ganz allein zu Hause lassen, wie sie es allerdings bisher immer zu meinem Entsetzen gethan haben … das wollte ihnen doch jetzt nicht mehr recht passend erscheinen bei einem so großen Mädchen, das auf dem Sommerfest neulich schon wie eine erwachsene Dame aussah und demgemäß auch wie eine solche behandelt wurde. Also hieß es nothgedrungen: Lieber Grimm, da Du doch ohnehin Gerda zu Dir nehmen wolltest – sie kann ja mit Wolfgang zusammen einstweilen weiter lernen – möchtest Du sie nicht jetzt schon haben? Natürlich wollte ich sie haben, aber ohne den Ballast von Gelehrsamkeit! Mag der Junge zusehen, wie er ohne sie fertig wird! Gar kein übles Gewächs, der Wolfgang, bloß durch diese – wie sage ich gleich? – exceptionelle Erziehung verdorben! Ich hab’ ihm gehörig den Kopf gewaschen und ihm zu Gemüth geführt, daß es eine Schande für einen rechten Jungen sei, wenn sein Lernen und sein Vorwärtskommen von seiner Schwester abhängig sei. Es schien ihm einigen Eindruck zu machen, und ich selbst habe mich auf die Suche nach einem Gefährten für ihn begeben, auch glücklich einen jungen Schlingel in seinem Alter aufgegabelt, der gleichfalls bei den Wissenschaften nicht gut thun, dagegen mit derselben zähen Leidenschaft wie Wolfgang Seemann werden will. Sie wissen beide gleich wenig, werden gemeinsam gedrillt, sind geschworene Freunde geworden, die jede freie Stunde bei den Schiffen sitzen, segeln oder sich in den Häfen herumtreiben, und scheinen jetzt vorwärts zu kommen … auch da heißt es natürlich abwarten! Mein Kind Gerda aber hat all das für ein Mädel unverdauliche Zeug, den Homer und die Verba auf mi und so weiter, fröhlichen Herzens über Bord geworfen und treibt dafür fleißig die übrigen Wissenschaften, denn was Tüchtiges lernen soll sie, das steht fest!“

„Bitte,“ sagte Andree ruhig, „lassen Sie ihr auch jetzt oder später Zeichen- und Malstunde geben – ich sah zufällig ein Pröbchen ihrer Kunst, und ich sage Ihnen, es ist Talent da, wenn auch zunächst nur zur Karikatur, wie sie behauptet. Ich bot ihr damals an, ihr Unterricht im Zeichnen zu geben, aber sie wollte nicht!“

„Wollte nicht?“ wiederholte Grimm nachdenklich. „Ja, ja, das kann ich mir denken!“

„Wirklich?“ fragte der Maler lebhaft. „Auch den Grund dafür?“

„So ungefähr!“

„Und Sie können ihn mir nicht sagen?“

„Können – schon! Aber ich möchte es lieber nicht! Sie nehmen es mir nicht übel?“

„Wie sollte ich? Wenn es, nach Ihrem Gesichtsausdruck zu schließen, ein ernster Grund ist –“

„Das ist es!“

„Dann verzichte ich selbstverständlich! Nun, bitte, sagen Sie mir: wie haben denn Frau Müller und Hafis die neue Hausgenossin aufgenommen?“

Herr Grimm lachte.

„Ganz ohne Kampf ging das nicht ab. Bei der Müller trat von dem Kampf allerdings nichts an die Oberfläche, aber ich kenne die alte Person zu gut, hab’ sie nicht umsonst all die langen Jahre hindurch um mich gehabt – in der Tiefe hat’s bös gegährt, sage ich Ihnen! Sie war in großer Furcht, ich könnte auf Gerda das übertragen, was sie ‚ihre Rechte‘ nennt, oder das Kind könnte diese sogenannten Rechte an sich reißen wollen. In diesem Fall hätte sie mir gekündigt, so schwer es ihr geworden wäre, das weiß ich genau, und, obgleich sie voller Eigenheiten steckt und eine verdrehte alte Schraube ist … ohne die Müller könnt’ ich mich doch schwer behelfen! Allein mein Töchterchen benahm sich prachtvoll. Gerda ist ja eigentlich kein liebenswürdiges Naturell, zum Beispiel gar kein Schmeichelkätzchen wie die meisten jungen Dämchen in ihrem Alter – sie geht höchstens mir ’mal um den Bart – nun, das ist aber für meinen alten Premierminister gerade das Rechte! Wäre das Mädel wie ein Ohrwurm um die Müller herum gewesen, dann wär’ diese heillos argwöhnisch geworden, hätte allerlei Falschheit dahinter gewittert und meiner Tochter nicht gerade das Dasein versüßt. Nichts davon! Gerda ging ganz unbekümmert ihren Weg und ließ die Müller den ihrigen gehen, überließ ihr sämmtliche Pflichten und Rechte, war nicht zu freundlich, nicht zu rauh, verletzte in keinem Punkte die Hausordnung und brachte zuerst in meiner Alten ein stilles Erstaunen, dann schweigende Billigung, endlich ein offenbares Wohlgefallen hervor. Jetzt weist sie dem Kinde freiwillig dies und das zu, was sie früher selbst besorgt hat – Gerda fragt sie bei jeder Gelegenheit um Rath, kurz, es herrscht vollkommene Uebereinstimmung unter meinen Damen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 810. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_810.jpg&oldid=- (Version vom 19.11.2023)