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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Der Angerufene, ein wohlgenährter Bierbrauer, bemüht sich vergeblich, zwischen der Richtung seiner Gesichts- und derjenigen seiner vorderen Körperlinie den richtigen Kompromiß zu schließen. Stimmt’s oben, so hapert’s unten, und stimmt’s unten, so steht sein Kopf um ein paar Handbreiten hinter den Kameraden zurück. So kann’s denn natürlich auch seinem feingekleideten Nebenmann nicht gelingen, für seine Person die Zufriedenheit des Herrn Feldwebels zu erringen, und unter ihm macht gar die ganze Linie einen Haken! „Zurück der ganze linke Flügel, von der Mitte ab zurück!“ schreit immer heiserer der geplagte Mann – langsam findet einer um den andern sein richtiges Plätzchen und leidlich befriedigt tritt der Feldwebel endlich vom Flügel weg, ruft noch mit einer letzten Anstrengung seiner des Kommandierens doch etwas entwöhnten Lunge „Augen gerade aus!“ und erstattet dem dienstthuenden Bezirksoffizier die Meldung: „Sechsundachtzig Reservisten der Jahresklasse 1885 zur Stelle!“

Und mit Würde tritt der die Kontrolversammlung leitende Hauptmann an den Flügel, wirft einen scharfen Blick die Front hinunter, findet selbstverständlich noch einiges auszusetzen an der so mühevoll zustande gebrachten Richtung, und nun endlich erschallt das erlösende Kommando: „Rührt Euch!“ Die Verlesung der Kriegsartikel, der verschiedenen Bekanntmachungen und allerhöchsten Verordnungen kann beginnen.

Die neue Glocke auf dem Michaelisthurm zu Hildesheim.

„Ziehet, ziehet, hebt!
Sie bewegt sich, schwebt!“

Unwillkürlich muß man dieser Verse aus Schillers „Lied von der Glocke“ gedenken beim Anblick des Vorgangs, welchen der Zeichner in unserem Bildchen festgehalten hat. An einem Septembertage dieses Jahres wurde auf den uralt ehrwürdigen Ostthurm der Hildesheimer Michaeliskirche, eines der bedeutendsten romanischen Baudenkmäler unseres Heimathlandes, eine neue Glocke aufgezogen. Es war das keine einfache Arbeit, denn da der Bau des Thurmes und die Lage des Geläutes ein Aufziehen im Innern nicht gestattete, so mußte man die nicht weniger als 3510 kg schwere und am unteren Rande etwa 2 m im Durchmesser haltende Glocke an der Außenseite heraufwinden. Das geschah denn auch unter Beisein des Kirchenvorstands und eines zahlreichen Publikums, das dem feierlich-ängstlichen Werke mit Spannung folgte.

Die neue Glocke ist hervorgegangen aus der Glockengießerei von J. J. Radler und Söhne in Hildesheim. Sie trägt am oberen Rande zwischen zwei Blattfriesen auf der einen Seite die Inschrift: „Es ist vollbracht!“, auf der andern: „Ich rufe euch zum Dienst des Herrn, o Menschenkinder, höret gern!“ Am unteren Rande sind die Namen des Kirchenvorstandes und des Gießers sowie die Jahreszahl des Gusses, 1891, angebracht. Den mittleren Theil des Glockenmantels verzieren zwei Reliefdarstellungen, die Kreuzigung Christi und das Bildniß Luthers.

Am 26. September fand zum ersten Mal ein Probeläuten statt und nun tönt bei jeder feierlichen Veranlassung der schöne Amoll-Accord a0c0e, welchen die neue Glocke mit ihren älteren Schwestern bildet, über die altersgraue Stadt Hildesheim hin. Mögen an ihr auch die Schlußworte der Schillerschen Glocke in Erfüllung gehen:

„Freude dieser Stadt bedeute,
Friede sei ihr erst Geläute!“

Der Aufzug der neuen Glocke auf
dem Michaelisthurm zu Hildesheim.

Nach einer Zeichnung von C. Grote.

Selbstsucht und Nächstenliebe. Der verständige Mensch hört gern auf die Rathschläge des Alters und läßt sich von ihnen leiten. So muß man demjenigen dankbar sein, der die Erfahrungen eines langen Lebens gesammelt und gesichtet dem jüngeren Geschlechte übermittelt, damit es daran lerne. Dieser Dank gebührt auch dem Manne, der uns das Buch geschenkt „Aus den Lebenserfahrungen eines Siebzigers“ (Gotha, F. A. Perthes). In ihm hat er niedergelegt, was sich dem einsamen Greise als die Summe seines Daseins ergab, schlicht und einfach, aber eindringlich und überzeugend. Vernehmen wir als eine Probe, wie er über Selbstsucht und Nächstenliebe redet!

„Nicht bloß kleine Leiden zu vergessen, auch schwerste Kümmernisse zu lindern und allmählich in Seelenheiterkeit umzuwandeln, giebt es kein besseres Mittel als Arbeit für gemeinnützige Zwecke. Schon die Arbeit an sich stumpft jeden Stachel ab. Ein besonderer Segen liegt aber in dem uneigennützigen Thun für andere, ohne Seitenblicke auf Dank oder öffentliche Anerkennung. Die Früchte werkthätiger Liebe scheinen nicht selten zweifelhaft, ja den Erwartungen entgegengesetzt. Auch das soll nicht beirren. Dürfen wir uns sagen, daß wir guten Willen, ehrliches Bemühen eingesetzt haben, so bleibt die wohlthätige Rückwirkung auf uns selbst niemals aus. Die Eigenliebe ist ein schlechter Rechner. Aber nur wer von Nächstenliebe ohne selbstsüchtige Hintergedanken erfüllt ist – neuere Philosophen haben dafür das Wort ‚Altruismus‘, als Gegensatz zum ‚Egoismus‘, geschaffen – kann das einsehen. Jedem andern erscheint die Behauptung widersinnig oder heuchlerisch. Der Egoismus, ja schon die Selbstliebe, wenn sie sich und ihre Ziele scharf ins Auge fassen, müßten, sollte man meinen, zu einer zersetzenden Kritik an sich selbst gelangen. Der einzelne Mensch ist doch nur ein Punkt im unermeßlichen All. Wer daran nicht denkt, seine Person nicht als Theil des großen Ganzen auffaßt, sondern Liebe und Sorge, Sinnen und Trachten auf dieses armselige leibliche Ich konzentriert, das so leicht geschädigt, vernichtet werden kenn, dessen ‚Leben dahinfährt, als sei eine Wolke dagewesen‘, gleicht einem ‚thörichten Manne, der sein Haus auf Sand baute‘.“

Werthvoller Kehricht. Die Werkstätten der Gold- und Silberschmiede, namentlich in den fabrikmäßig eingerichteten Betrieben zu Pforzheim, Hanau, Frankfurt a. M., Magdeburg, liefern Abfälle, deren Werth oft nach Tausenden von Mark für den Doppelcentner zählt.

Silberschliff, d. h. der beim Feilen und Polieren des Silbers mit Schmirgel entstehende Abfall, enthält bis zu 16 Prozent Silber und der Doppelcentner davon wird im Handel mit etwa 3000 Mark bezahlt.

In den Bijouteriefabriken wird der Kehricht der einzelnen Werkstätten gesammelt, ausgeglüht und wieder auf den Markt gebracht. Jeden Abend nach Beendigung der Arbeit bestreut man die Werkstätte mit feuchtem Sägemehl oder feuchtem Sand und kehrt sie sorgfältig aus. In den Kehricht werden ferner die Schmelztiegel geworfen, welche nicht mehr gebraucht werden, sowie der sogenannte Wasserschlamm von dem Waschwasser der Arbeiter. Letzterem, welches gold- und silberhaltig ist, wird nämlich Erde zugesetzt, worauf man das Wasser abgießt; der Rückstand ist eben der Wasserschlamm.

An ausgeglühtem Werkstättenkehricht, sogenannter Krätzasche, soll jährlich allein von Pforzheim für über eine halbe Million Mark versandt werden.

Die „Dame mit dem Muff“ (Zu unserer Kunstbeilage.) Das Gemälde, welches unsere heutige Kunstbeilage wiedergiebt, gehört zu den Zierden des Louvremuseums zu Paris. Es ist eine der überaus zahlreichen Schöpfungen, welche die Welt dem Pinsel der Frau Lebrun, einer geborenen Vigée, verdankt. Diese Künstlerin, welche in dem hohen Alter von siebenundachtzig Jahren 1842 zu Paris starb, war nicht bloß ein außerordentliches, frühreifes, durch glänzende äußere Verhältnisse begünstigtes Talent, sie war auch eine schöne und liebenswürdige Frau und bildete einen der bevorzugtesten Mittelpunkte im geistigen Leben der französischen Hauptstadt. Die Schrecknisse der ersten Revolution vertrieben sie wie so viele andere aus Frankeich und zwangen sie, im Auslande eine Stätte für ihre Kunst zu suchen. Sie fand diese auch: an den Höfen von Wien, Berlin, Petersburg und London ward sie mit Auszeichnung aufgenommen. Aber schon im Jahre 1801 kehrte sie nach Frankreich zurück, und sie blieb dort, obwohl der neue Machthaber Napoleon der Bourbonenfreundin nicht eben gut gesinnt war. Sie verstand es, wie sie innerhalb der vorrevolutionären Schule der französischen Kunst eine ehrenvolle Stellung eingenommen hatte, so auch der neuen inzwischen aufgekommenen Kunstrichtung sich anzupassen, und als die bis ins hohe Alter noch rüstige Greisin starb, da hinterließ sie nicht weniger als fünfzehn historische Gemälde, über sechshundert Bildnisse und gegen zweihundert Landschaften. Gewiß ein gesegnetes Talent!



manicula 0Hierzu Kunstbeilage XIII: Die „Dame mit dem Muff“.0 Von Vigée-Lebrun.


Inhalt: Ein Götzenbild. Roman von Marie Bernhard (10. Fortsetzung). S. 773. – Die Hafendammpromenade in Nizza. Bild. S. 773. – Die Liebste schreibt. Gedicht von Josef Schrattenholz. Mit Bild. S. 777. – Aus vormärzlicher Zeit. Von Rudolf von Gottschall. S. 780. – Der Festdichter. Bild. S. 781. – Der höhere Standpunkt. Von E. Werner. S. 783. – Kontrolversammlung. Bild. S. 785. – Blätter und Blüthen: Die Wahebe. S. 786. – Die Hafendammpromenade in Nizza. S. 787. (Zu dem Bilde S. 773. – Der letzte Lützower. Mit Bildniß. S. 787. – Bei der Kontrolversammlung. S. 787. (Zu dem Bilde S. 785.) – Die neue Glocke auf dem Michaelisthurme zu Hildesheim. Mit Abbildung. S. 788. – Selbstsucht und Nächstenliebe. S. 788. – Werthvoller Kehricht. S. 788. – Die „Dame mit dem Muff“. S. 788. (Zu unserer Kunstbeilage.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 788. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_788.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)