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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Brief zurückgesandt hatte! Sie hatte gleich am Tage nach ihrer Unterredung mit Waldemar Andree nach Rom geschrieben und Signora Marchini gebeten, ihre sämmtlichen Briefe, namentlich aber den letzten, ihr wiederzuschicken, sie hatte aber keine Antwort bekommen. Eine dumme Geschichte! Es ging ihr doch sonst im Leben alles so glatt nach Wunsch, – warum dies nicht?

Freilich, – doch nicht alles! Sie würde vor Andree Komödie oder vielmehr Tragödie spielen und einen streng beherrschten Kummer heucheln müssen, den sie nicht empfand. Aber das war nicht schlimm! Stella war eine geschickte Schauspielerin, sie stand so zu sagen eigentlich immer auf der Bühne und befand sich vortrefflich dabei. Was ihr jetzt so unangenehm war, ja, sie sogar ernstlich verstimmte, das war die Thatsache, daß ihre Schwester Gerda Herrn Grimms Pflegetochter werden und demnächst das elterliche Haus verlassen sollte.

Sie machte sich nichts aus ihr, sie nahm mit ihrem Herzen gar keinen Antheil an ihr. Sie hatte überhaupt keinen Familiensinn, – hätte sie ernstlich darüber nachgedacht, ob sie ihren Vater, ihre Mutter liebe, sie wäre zu dem Ergebniß gelangt, daß es nicht der Fall sei. Aber sie dachte nicht daran. Sie bildete sich ein, ihre Eltern lieb zu haben, – sie waren ja so gütig gegen sie, überhäuften sie mit den schönsten Dingen, kamen ihrem Hang zu Eleganz und Luxus immer bereitwilligst nach, widersprachen ihr nie und schmeichelten ihr unermüdlich. Und das mußte so sein, das verlangte Stella. Es gehörte zu ihrem Leben so untrennbar wie die Luft, die sie athmete, wie das Licht, das sie sah. Immer wieder, in jeder Form, sei sie nun alt oder neu, geistreich oder kindisch, schwungvoll oder unbeholfen, verlangte sie diese ihre eigentliche Lebensnahrung, und wehe dem, der sie ihr nicht bot!

Und Gerda, ihre jüngere Schwester, bot sie ihr nicht!

Darum konnte die schöne Stella das Kind nicht leiden, darum demüthigte und ärgerte sie es, wo sie nur konnte, darum reizte sie die Eltern gegen dasselbe auf und gönnte ihm keine Freude! Die Natur hatte die unvergleichliche Stella mit so vielem überreich bedacht, wozu hätte sie ihr auch noch Gemüth verleihen sollen? Hiervon besaß sie wirklich keine Spur, sie beklagte sich aber auch nicht im mindesten darüber, denn Gemüth kann oft sehr unbequem werden, und dagegen lehnte sie sich auf. Das unausgesetzte Intriguenspiel mit Gerda machte ihr Scherz, sie hatte sich an diesen kleinen häuslichen Guerillakrieg gewöhnt, und da sie klug und eine gute Beobachterin war, so durchschaute sie selbstverständlich die junge Schwester so vollständig, als ob diese von Glas wäre, errieth ihre Wünsche und Neigungen, ihre Sympathien und Antipathien sofort und richtete sich dann gelassen danach ein. So hatte sie es alsbald herausgefunden, daß Gerda in ihrer ungestümen, knabenhaft versteckten Art für Herrn Andree schwärmte, weil er ein paar Mal freundlich und gütig gegen sie gewesen war, und es gewährte Stella nun doppelten Scherz, Herrn Andree in sich selbst verliebt zu machen, doppelten, denn er gefiel ihr auch ohnehin gut, und sie dachte es sich neu und hübsch, einen so ernsten, zielbewußten Menschen ganz um seinen Verstand und seine Fassung zu bringen.

Und nun sollte das alles bald ein Ende haben, – und warum? Bloß, weil Papa einmal vor Jahren von diesem fatalen Grimm einen großen Dienst angenommen hatte und ihm nun dafür so verpflichtet war, daß er ihm in allem gehorchen mußte! Stella war sehr, sehr ungnädig gewesen, als der Vater ihr und der Mama die Eröffnung gemacht hatte, daß er Gerda als Pflegetochter an „seinen Freund Grimm“ abgetreten habe, sie hatte einen sehr unkindlichen Ton angeschlagen und Dinge gesagt, die jeder andere Vater wohl nur auf eine einzige Art beantwortet hätte; aber Herr Brühl ließ sich den Ton gefallen und bestand auf seinem Verlangen, – er that es wahrhaftig! Grimm habe das Recht, eine Gegenleistung von ihm zu fordern, er habe es all’ diese Jahre hindurch nicht gethan, – nun sei der Zeitpunkt da, und sie wären quitt miteinander. Umsonst, daß Stella ihrer Mutter zurief: „Mama, das läßt Du Dir gefallen? So setz’ Dich doch zur Wehr, Du kannst das nicht hingehen lassen, Gerda ist ebenso gut Deine Tochter wie Papas!“ – umsonst, daß Frau Molly ihre beringten Hände rang und erklärte, sie leide es nicht, – der Senator stand da wie ein Fels im Meer, an dem alles abprallt. Er versprach „seinen Damen“ alles, was sie nur von ihm verlangten, zumal wenn das „neue Geschäft“ gut einschlage, – das waren die Kornhöfer Industrie-Aktien, die ihm Grimm empfohlen hatte! – aber in diesem einen Punkt sei alles Reden und Bitten nutzlos: Gerda gehöre bis zum Herbst dem Namen nach noch ihnen, das heißt, sie bleibe bis dahin noch im elterlichen Hause, thatsächlich aber bestimme Grimm schon jetzt über sein künftiges Adoptivkind, und das könne er nun nicht hindern. Sein Engel, sein Prinzeßchen, seine Stella, die ja ihrer Eltern Stolz und Augenweide sei, solle gut und einsichtsvoll sein! Was könne denn ihr an dem unreifen, ungezogenen Ding liegen, mit dem sie nur ihren Aerger gehabt?

Stella hatte keine Antwort darauf gegeben, die bittend hingestreckte väterliche Hand unsanft beiseite geschoben und sich in ihrem Innern das Geständniß gemacht, daß sie Papa nicht leiden könne. Wie durfte er so schwach, so charakterlos, so ohne Willen sein? Sich beliebig von diesem Menschen am Gängelbande leiten lassen? Gewiß hatte er einmal eine ungeheure Dummheit begangen, und Grimm hatte sie gut gemacht oder vertuscht. Diese unehrerbietige Kritik übte Stella ganz kaltblütig in der Stille, während Herr Brühl sein Sperberhaupt tief zwischen die Schultern zog und ängstlich und verstohlen zu dem schönen Haustyrannen hinüberschielte.




17.

Die Einladung zum Brühlschen Gartenfest lautete zum Diner pünktlich um vier Uhr. Andree hatte sich einen Wagen genommen, entdeckte aber, als er der Villa auf der Uhlenhorst nahe kam, daß er wohl um zwanzig Minuten zu früh dort anlangen werde.

Er ließ langsamer fahren, trat, am Ziele angekommen, in den Garten und stieg bedächtig eine mäßige, mit kurzem Rasen bestandene Anhöhe hinan, die ihn zu einem schmalen Kiesweg führte, welcher sich wie ein gelbliches Band durch hohe dunkle Buschpartieen schlängelte.

Am Ende dieses Weges stand er plötzlich vor einem kleinen, von Haselsträuchern dicht umwachsenen Tempelchen, das aus hellen, ungeschälten Birkenstämmen zusammengesetzt war und von den kräftig emporwuchernden Büschen wie von einer natürlichen Laube überwölbt wurde. Zwei Holzstufen führten in das Innere der ringsum offenen kleinen Halle, die innen gedielt war und ein Bänkchen von Birkenstämmen aufwies.

Hier bot sich dem leise Herzutretenden ein überraschender Anblick.

Auf dem Bänkchen kauerte, die Füße in seltsamer affenartiger Weise hoch heraufgezogen, die Arme um die Kniee verschränkt, der Negerknabe, den Andree bei jenem ersten Zusammentreffen mit Stella Brühl hinter ihr im Wagen erblickt hatte. Der Junge war heute nicht aufgeputzt, trug eine grellroth und weiß gestreifte Jacke und Hose aus geringem Baumwollstoff und keinen Fez auf dem krausen Negerhaar. Den Kopf hielt er gesenkt und ab und zu stieß er einen halb thierischen Laut aus, eine Art von Geheul, das in einem wilden Schluchzen endete.

Neben ihm, Andree den Rücken zukehrend, stand eine weiße Mädchengestalt, und das Herz des Lauschers klopfte plötzlich stärker bei dem Gedanken, dies könnte Stella sein. Er entdeckte aber seinen Irrthum augenblicklich, – die Gestalt war unentwickelt und hatte dunkles Haar, das in einen üppigen Knoten geschlungen und im Nacken festgesteckt war. Es war Gerda.

Sie sprach eifrig auf den Knaben ein, tief zu ihm herabgebeugt, in beschwichtigendem Ton, wie man zu einem aufgeregten Kinde spricht.

„Alles anders werden mit Dudu, alles anders werden!“ tröstete sie und klopfte mit der flachen Hand leise auf des Jungen gesenkten Kopf.

„Missie Gerda fortgehen, – Missie Gerda Dudu mitnehmen!“ fuhr sie fort, „Dudu besser haben, – nie mehr Schläge, – nie mehr frieren, – vielen Zucker essen, – immer bedienen bei Tisch! Dudu gut sein, – nicht mehr weinen, – nicht mehr weinen!“

Er stieß ein paar unartikulierte Laute aus und hob ein wenig den Kopf, und nun sah Andree, daß er wirklich weinte und daß dicke Thränen über sein schwarzes Gesicht liefen.

„Dudu Missie Gerda verstanden?“ fragte das junge Mädchen sanft.

Der kleine Neger nickte mehrmals bestätigend.

„Nun also! Gutes Kind sein, – aufhören zu weinen! Nix Taschentuch?“

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