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verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

„Hafis, hierher!“ „Einen Stock!“ „Ja, den habe ich hier nicht!“ „Um Gotteswillen, es wird noch die Decke herunterreißen!“ – Und Andree mit seinen langen Beinen sprang durch die Zimmer, als sei die Kaninchenjagd sein täglicher Sport, Herr Grimm, um sein Eigenthum und um Hafis besorgt, lief athemlos von einer Ecke zur andern, Gerda lachte und jammerte in einem Athem, und alle zusammen vollführen einen solchen Heidenlärm, daß die alte Müller herbeistürzte und wie festgenagelt, ein Bild des Entsetzens, in der Thür stehen blieb, von der unheimlichen Befürchtung ergriffen, bei einem von den drei wie rasend Umherjagenden sei die Tobsucht ausgebrochen.

Das findige Kaninchen aber, der Urheber des ganzen Lärms, ließ sich von niemand greifen, weder von den Männern, noch von Gerda, noch auch von Hafis. In unvorhergesehenen Augenblicken schoß es aus irgend einem Winkel hervor in ein neues Versteck, und zuletzt kroch es unter einen Schrank, der auf so niedrigen Füßen stand, daß selbst der geschmeidige Hafis hierher nicht folgen konnte.

Erschöpft und schwerathmend umzingelten die Jäger den Schlupfwinkel und setzten das Kaninchen in Belagerungszustand. Frau Müller wurde angewiesen, sich mit Hafis zu entfernen, was erst nach einiger Zeit gelang, denn die Perserkatze, in der das Raubthier leider ganz erwacht war, umschlich mit lüsternen Blicken die Verschanzung und ließ sich lange vergebens locken, ehe sie mit Frau Müller abging.

„Jetzt hole ich Ihren Stock, Onkel Grimm!“ erklärte Gerda. „Ich weiß ja, wo er steht!“

„Thu das, mein Kind, und wenn Du die kleine Kreatur erwischt hast, dann bringe sie in den Verschlag, wo die Eimer und Besen stehen, da kann sie keinen Schaden anrichten!“

Sehr verschüchtert und verängstigt kam das Kaninchen endlich zum Vorschein, und Gerda begrüßte es mit Entzücken.

„Da ist es! Onkel Grimm, ich hab’ es! Sehen Sie nur, Herr Andree, ganz klare, rothe Augen hat es in seinem weißen Gesichtchen! Ist es nicht niedlich? Es hat sich fürchterlich entsetzt, sein kleines Herz klopft so rasch unter meiner Hand. Wenn Hafis es gepackt hätte, ich kann es nicht ausdenken!“

Sie drückte zärtlich ihr Gesicht in das weiße Fell des Thierchens und ging, es in seinen Verschlag zu setzen.

Als sie dann wieder ins Wohnzimmer zurückkam und nun mit ganz gesetzter Miene den beiden Herren gegenüber Platz nahm, überwältigte sie die Erinnerung an die soeben erlebte komische Scene dermaßen, daß sie, nach einigen völlig nutzlosen Bemühungen, ernst zu bleiben, mit einem Mal in ein schallendes, frohes Gelächter ausbrach.

Die zwei stimmten ohne weiteres mit ein, und Herr Grimm wischte sich zuletzt die Thränen aus den Augen.

„Du Schelm, Du Wildfang!“ drohte er Gerda, „daran bist Du mit Deinem Kaninchen schuld!“

„Seien Sie nicht böse, Onkelchen!“ Sie rieb ihre Wange an seinem Sammetrock wie ein schmeichelndes Kätzchen. „Ich bringe Ihnen nie wieder eines!“

„Wer ist denn ‚sie‘, die Ihnen das Thierchen fortnehmen oder totmachen wollte?“ fragte Andree. „Gewiß Frau Willmers, nicht wahr.“

Gerda schlug die Augen nieder und begnügte sich, zu antworten: „Frau Willmers kann sehr böse sein!“

Es entstand eine kleine Stille.

„Und wie steht’s mit den Verbis auf mi?“ examinierte Andree neckisch weiter.

„Ach, erinnern Sie mich nur nicht daran! Denken Sie, ich kann sie noch nicht! Wolf auch nicht! Doktor Winkler war ganz ärgerlich auf uns und sagte, wir hätten für Grammatik gar keinen Kopf. Darin hat er auch recht. Für die alten Sprachen sind wir verloren!“

„Freuen Sie sich auf den Aufenthalt in Uhlenhorst?“ fragte Andree das junge Mädchen.

Sie zog nachdenklich die Augenbrauen hoch. „Ach – ich weiß nicht recht – der Garten dort ist sehr hübsch – aber wir haben immer soviel Besuch, ich kann nie nach Herzenslust darin umhertoben. Mit mir ist es schon immer dasselbe, wo ich auch bin!“

„Das Umhertoben schickt sich auch für Dich wirklich nicht mehr ganz!“ lächelte Herr Grimm.

Gerda zog ein Gesicht, als ob sie weinen wollte.

„Was soll ich denn eigentlich?“ rief sie mit mühsam unterdrückter Heftigkeit im Ton. „Wenn ich irgendwie nur den kleinsten Wunsch laut werden laß’, wenn ich einmal wage, mitzureden, da heißt es gleich: Was fällt Dir ein? Du bist ja noch ein Kind; wie kannst Du es wagen, eine Meinung zu haben, einen Anspruch zu machen? – Und bin ich einmal wild mit Wolf und freu’ mich an kleinen Dingen und bin wie ein Kind – da werd’ ich angeschrieen: Schämst Du Dich nicht? Solch ein großes Mädchen und beträgt sich wie ein ungezogener Junge! Aus Dir wird nie im Leben eine wirkliche Dame werden – man kann Dich nie in die Welt einführen!“

Die ganze Bitterkeit des beiseite geschobenen Kindes klang in diesen Worten wieder, aber auch dessen ganze Liebenswürdigkeit brach durch, als Gerda dem väterlichen Freunde ihre Hand über den Tisch hinüberreichte und sagte: „Ja, Onkel Grimm, wenn Sie auch mitgingen!“

„Besucht Sie denn Herr Grimm nicht auf der Uhlenhorst?“ forschte Andree befremdet, erhielt aber ein kurzes „Nein“ zur Antwort.

Gerda hatte die beiden Arme vor sich auf den Tisch gestützt und starrte vor sich nieder. Ihre Haltung war nachlässig, ihr Benehmen ungleich … sie hatte wirklich gar keine Manieren. Die Röthe, welche die lebhafte Bewegung zuvor ihr ins Gesicht getrieben, hatte dies schmale Antlitz ein wenig belebter und jugendlicher erscheinen lassen, jetzt war es wieder von eintöniger Blässe und düster im Ausdruck. Die großen grauen Augen, von sehr dichten schwarzen Wimpern und Brauen begrenzt, hätten hübsch sein können ohne den mißtrauisch prüfenden, grübelnden Blick, der fast beständig darin wohnte. Gerda trug wieder das graue Kleid, in dem Andree sie damals zuerst auf der Treppe und dann auch beim Ballfest gesehen hatte. Es saß ihr schlecht, und ihre ungelenken Glieder schienen sich dagegen zu sträuben, es tragen zu müssen. Sie sah jetzt von der Tischplatte, an der ihre Blicke eine ganze Weile gehaftet hatten, auf und begegnete Andrees Augen, die mit einem ernsten, messenden Ausdruck auf sie gerichtet waren. Sie nahm die Arme vom Tisch, richtete sich straff auf und wurde roth.

„Nun, Maus“ – Herr Grimm, der das kleine Manöver wohl bemerkt hatte und Gerda über die Verlegenheit forthelfen wollte, nahm sie beim Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich herum – „hattest Du mir denn heute nur das Kaninchen in Pension zu geben, oder hast Du noch sonst etwas auf dem Herzen gehabt, als Du kamst?“

Sie warf ihm einen raschen Blick zu, der ein „Später!“ bedeutete, und sagte zugleich lebhaft:

„Ja, ich hab’ etwas – etwas Wunderschönes sogar! Denken Sie sich, Onkel, heut’ vormittag war die Prinzessin ausgefahren, und vor der lateinischen Stunde bin ich ein paar Minuten in ihren Salon geschlüpft – Frau Willmers, der alte Drache, hatte Besuch bekommen – und da sah ich etwas – etwas ganz Neues, es kann erst ein paar Tage da sein – ach Gott, nein, zu schön! Eine Büste also, eine Marmorbüste von der Prinzessin selbst, auf einer schwarzen Ebenholzsäule – zum Sprechen ähnlich – ach – und entzückend – und entzückend!“

Ganz außer Athem hielt sie inne, und jetzt kamen auch die Augen, die vor Begeisterung dunkel leuchteten, zur Geltung.

„Wer hat sie denn gemacht? Wie ist Stella dazu gekommen?“ fragte Herr Grimm.

„Weiß ich nicht – weiß ich alles nicht. Wer wird mir etwas sagen, Onkel? Und ich hätt’ es so schrecklich gern gewußt, wie das alles zusammenhängt!“

„So fragen Sie doch einfach Ihre Schwester, die weiß es am besten!“ sagte Andree.

Gerda schüttelte stumm den Kopf, ihr Blick wurde verschlossen und trübe.

„Dann will ich es Ihnen sagen!“ fuhr er freundlich fort. „Diese Büste hat ein junger Bildhauer in Ron angefertigt und mir mitgegeben. Er hat Ihre schöne Schwester sehr – sehr – verehrt, und als Zeichen dieser seiner Verehrung hat er ihr dies Kunstwerk geschickt!“

„Ach,“ fiel sie ihm ungestüm ins Wort, das ist gewiß Werner Troost gewesen! Wissen Sie noch, Onkel Grimm, vor ein paar Jahren war er hier – vielleicht sind’s auch noch nicht

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