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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Bevor Lars an das helle Fensterchen des wackeren Gesinnungsgenossen anklopfte, stand er einen Augenblick stille, um zu verschnaufen und einen vorsichtigen Blick in das Stübchen zu thun. Drinnen saß eine alte Frau an dem braungebeizten Tische, vor sich die offene Bibel, deren Zeilen sie mit dem Finger nachfuhr. Eine niedrige zinnerne Thranlampe erhellte das einfache friedliche Zimmer. Schon hob Lars die Hand, um nach Knud Frodens Weisung drei leise Schläge gegen das Fenster zu thun, da hörte er hinter sich ein rasch näher kommendes Geräusch. Ihm, dem beherzten Manne, stockte auf Augenblicke der Athem: keuchend, fauchend, lechzend kam ein Etwas durch die finstere Nacht dahergerast. Ehe Lars nur einen Gedanken zu fassen vermochte, sah er zwei wilde glühende Augen durch die Dunkelheit leuchten, hörte das heisere Fauchen eines großen Thieres und – fühlte zwei mächtige Pranken in seine Schultern geschlagen, während sein Hemd von einem scharfen Gebiß zerrissen wurde.

Von grenzenlosem Ingrimm erfaßt, hatte Lars im Nu sein Postfelleisen zu Boden geworfen, mit beiden Händen den zottigen Hals des Unthiers gepackt und schüttelte dieses nun von sich ab, indem er fester und fester die Kehle zusammen- und von sich abdrückte. Hatte der riesige Wolfshund zuerst sich mit wüthender Anstrengung zu befreien gesucht und dabei mit seinen Pranken Brust und Schultern des jungen Mannes blutig gerissen, so wurde sein Widerstand bald durch die seine Kehle umspannende eiserne Klammer gebrochen. Lars ließ nicht eher los, bis das mächtige Thier in den letzten Zügen röchelnd am Boden lag; dann gab er ihm noch einen Fußtritt und knirschte, nach Luft ringend: „Beest do, ik will di de Kneep[1] uitdrieven!“

„Herr do leive Gott, watt is’r denn all wedder los?“ rief eine angstvolle Frauenstimme. Durch das unheimliche Geräusch des Kampfes von ihrer Bibel aufgeschreckt, hatte die alte Fischerin das Schiebefensterchen geöffnet und beleuchtete mir ihrem Thranlämpchen die grausige Scene.

„De Pust is ehm utgahn!“ sagte Lars gelassen, indem er sich wieder nach seinem kostbaren Briefpacken bückte. Während er aber der Alten Vorwürfe über das freie Umherlaufen eines so bösen Unholds machte, versicherte diese, an allen Gliedern zitternd, der Hund gehöre nicht ins Haus, sondern sei Eigenthum der Franzosen, die ihn bei ihren Patrouilleritten zur Nachtzeit benutzten und wahrscheinlich in kurzer Zeit sich einstellen würden, um Nachsuche in der Hütte zu halten.

Da galt’s also schnell fertig zu werden. Die nöthige Verständigung mit der alten Frau war rasch erzielt. Sie war von allem unterrichtet und erklärte, in zehn Minuten könne das Werk gethan sein, er möge nur einen Augenblick draußen warten.

Gleich danach trat die alte Insulanerin mit Hacke und Schaufel in der Hand zu Lars ins Freie. Auf seine verwunderte Frage, warum ihr Mann nicht mitgehe, lachte sie dumpf nur sich hin und erwiderte: „Sei hebbn en mi inspunn! Hei sitt in die Blüse[2].“

Von der Giebelecke des Häuschens ab schritt die alte Frau dem lang und dunkel sich ausstreckenden Deiche zu. Sie zählte ihre Schritte, bei achtundvierzig hielt sie inne und flüsterte: „Hier!“

Schnell wurde die Hacke in den Grund geschlagen; nur wenige Schaufeln voll Erde brauchten beseitigt zu werden, und Lars entnahm dem Loche ein ebensolches in Leder und Oeltuch geschnürtes Packet, wie das war, welches er mitgebracht hatte und das er nun in das verschwiegene Erdreich einbettete. Hastig wurde das Loch zugeschaufelt, der Sand darübergescharrt. Der aufs neue vom Himmel strömende Regen verwischte vollends jede Spur.

Schon glaubte Lars, das Spiel völlig gewonnen zu haben, der Name der Geliebten wollte sich in triuphierendem Glücksgefühl auf seine Lippen drängen, als seine alte tapfere Begleiterin den Kopf hochwarf und lauschte. Wahrlich, durch den rauschenden Regen und das einförmige Brausen von Wind und Meer ließ sich deutlich Pferdegetrappel vernehmen.

Lars biß die Zähne zusammen, um einen Fluch zu unterdücken, und schickte seine mutige Helfershelferin mit der Bitte zurück, sie möge den erwürgten Hund aus dem Wege und dicht an die Hauswand schieben, damit die Pferde der nächtlichen Verfolger nicht über den Leichnam stolperten, sich dann aber wieder rasch an ihre Bibel setzen. Die alte Fischerin verschwand mit Hacke und Schaufel und Lars warf sich, dicht an den Deich gedrückt lang zu Boden. Nur eine Minute später brausten drei Reiter so nahe an ihm vorüber, daß der von den Hufen aufgeschleuderte Sand ihm um die Ohren flog.

Schon wollte Lars vorsichtig sein Haupt erheben, da hielt einer von den dreien sein Pferd an und kam zurück. Dem Liegenden stand das Herz in der Brust still; er sah sich bereits in schmählicher Gefangenschaft, mit Ketten belastet, in der Blüse sitzen, er hörte Knut Froden höhnisch sagen: „So wiet is de jütische Torfkopp mit sien Kurasche kamen!“ Nein, nein, das durfte auf keinen Fall geschehen, lieber wollte Lars um Leben und Tod das Aeußerste wagen: den gefährlichen Lauf über das wie ein schlammiges Grab in tiefster Finsterniß daliegende Watt. Mochte er versinken, ertrinken, umkommen in Nacht und Graus; besser das, als in die Hände des Feindes gerathen.

Lars sprang auf, warf seinen Pack über die Schulter und lief nun am Fuße des Deiches entlang. Erst in diesem Augenblicke wurde die dunkle fliehende Gestalt von dem Reiter, der nur einen nachträglichen Blick durch das Fensterchen der Hütte hatte thun wollen, entdeckt, und Lars erkannte, daß er mit seiner voreiligen Flucht eine große Dummheit begangen habe. Zur Reue war’s aber jetzt zu spät: vorwärts, vorwärts mußte er ohne Besinnen. In der wahnwitzigen Erregung blieb ihm nur ein klarer Gedanke: er mußte so weit den festen Strand zu seiner Flucht behalten, bis er seine Schaluppe „dwars“ hatte, so daß er, sich rechts wendend, in gerader Richtung durchs Watt das Schiff treffen konnte.

Mit Hussah und Halloh ging nun die fürchterliche Menschenjagd los. Wie ein gehetztes Wild, keuchend, zitternd am ganzen Leibe, doch das errungene Gut krampfhaft festhaltend, flog der junge Fischer in wildester Eile vor seinen Verfolgern her. Hinter ihm drein stürmten die französischen Schergen, die ihre Pferde zu immer rasenderem Laufe anspornten und das Feuer ihrer Gewehre auf den Flüchtling richteten, so oft ein die Nacht durchbrechender Blitz die fliehende Gestalt für einen Augenblick deutlicher erkennen ließ. Lars’ Kräfte, die ohnedies durch den Blutverlust aus einer Schulterwunde gesunken waren, ließen plötzlich nach, er strauchelte, fiel, raffte sich wieder auf, in wenigen Sekunden konnte er von seinen Verfolgern erreicht sein, die ihm ein von Wuth zitterndes Halt zuschrieen, und da – da wagte Lars mit der letzten Kraft der todesmuthigen Verzweiflung einen gewaltigen Sprung ins Watt.

Mit solcher Heftigkeit schlug sein Körper in den nachgiebigen Boden ein, daß er sofort bis an die Kniee versank. Und während er langsam, sehr langsam, Zoll um Zoll, Linie um Linie tiefer in das weiche Erdreich rutschte, überkam ihn das Gefühl vollständiger Rettung, seelischer Ruhe. Er war dem Feinde entkommen, er hörte, nur durch wenige Fuß breit Erde von ihnen getrennt, wie sie unter gotteslästerlichen Flüchen nach ihm suchten, ohne ihn finden zu können, wie sie endlich mit wildem Schwadronieren sich zankten, weil jeder eine andere Meinung über den Verbleib des Flüchtlings hatte, und wie sie endlich sich trennten, um einzeln den Strand und Deich abzusuchen. Lars gab sich dem süßesten Ermatten hin, das seine abgehetzten Glieder gefangen hielt. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken, und mehr und mehr zog ihn die Erde oder vielmehr das Meer in sich hinein, ohne daß er in der Erschöpfung den geringsten Widerstand zu leisten vermochte. „Wenn nun meine Gesche mit mir wäre, dann wäre das hier Seligkeit,“ war der letzte Gedanke des Sinkenden, und dann folgte eine Pause völliger Lichtlosigkeit, tiefsten Schweigens.

Aus seiner Betäubung wurde Lars durch einen verspäteten grellen Blitz, der von krachendem Donner begleitet war, geweckt. Er öffnete eine Sekunde lang die schweren Augenlider und sah in dem bläulichen Schein des Himmelsstrahls in nicht zu großer Entfernung auf dem schwarzen Wattboden eine riesige Gestalt kauern, eine Gestalt, die er nicht mehr in ihren Formen zu deuten wußte: breit, lang, mit einem Baum in der Mitte. „Der muß auch sinken!“ dachte er, indem er müde lächelte. In diesem Augenblicke flammte an der Spitze des vermeintlichen Baumes ein helles Licht auf, das seinen Schein rings auf die schlammige Wüste warf und in Lars’ zum Tode verzweifelter Seele den letzten Funken von Thatkraft weckte. Das war ja sein Schiff, und das Licht


  1. Kniffe, böse Tücken
  2. „Blüse“ wird der mächtige Thurm auf Neuwerk genannt, der als Leuchtthurm und zugleich als Rathhaus, Gefängniß, Herberge und Vorrathsmagazin diente und noch dient. Kurze Zeit nach dem hier Erzählten wollten die Franzosen das alte Steinbauwerk in die Luft sprengen; ob mit oder ohne den darin eingesperrten Gefangenen, konnte nicht ermittelt werden. Die Sprengung gelang indeß nicht völlig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 738. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_738.jpg&oldid=- (Version vom 27.10.2023)