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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

ist, auch falls er sie einem Gesellen anvertraut. Er braucht nicht zu befürchten, daß ein Hutmacher kommt und die Innennähte nach außen zusammenflickt. Wie aber ist’s beim Hausarzt? Wer zählt alle die, welche sich heimlich an seiner Arbeit betheiligen? Das eine Vorrecht hat er, zuerst gerufen zu werden. Sobald jedoch die Arznei, die er verschreibt, die gewünschte Wirkung am zweiten Tage noch nicht stark ins Auge fallen läßt, dann sagt man: „Es schlägt nicht an!“ Und nun kommen Vettern und Basen, und alte und junge Freunde erscheinen auf der Bildfläche.

„Na, Du –“. „Ja, weißt Du –“. „Hör’ einmal, das würde mir aber doch zu lange dauern!“ „Das sieht doch alle Welt, daß das weiter nichts ist als ein kleiner Erkältungsfall! Ich begreife nicht, daß der alte Müller nicht damit fertig wird! Da hat z. B. Gustchen von einem Mittel gehört, das würde ich doch einmal versuchen! Wenn’s nichts nützt, schadet es wenigstens nichts! Ich glaube, Kamillenthee und Citrone kommt dazu und gestoßener Kandis. Und Pimpernellenessenz soll auch sehr gut sein! Immer mit zwei Tropfen anfangen und mit einem Theelöffel voll aufhören! Sollte das aber alles nichts fruchten, dann hat Tante Alwine noch etwas: Tropfen! Die sind gut! Hilgers Wilhelm haben sie auch geholfen! Und was Scheibners Marien ihre Schwiegermutter ist, die hat die Tropfen bei ihrem Jüngsten angewendet, als ihn die Aerzte schon aufgegeben hatten. Und nun lebt er heute noch! Er steht in Dresden bei den Gardereitern! Du kannst Dich ja vorher erkundigen bei Scheibners, wenn Du ganz sicher gehen willst.“

Die empfohlenen Mittel werden natürlich angewendet. Erst das von Gustchen. Es hilft jedoch nichts. Die Tropfen von Tante Alwine werden in Aussicht genommen, auf die hat der Kranke seine ganze Hoffnung gesetzt, von wegen der Vorgeschichte, die sie haben: einer, den die Aerzte verloren geben, nimmt die Tropfen und wird wieder gesund, endet nicht im Grabe, sondern tritt in die Garde, kommt nicht ins Schattenreich, sondern zur schweren Kavallerie, wo sie bekanntlich keine Schwindsuchtskandidaten brauchen können – das ist doch keine Kleinigkeit! Vorher werden indessen noch einmal Erkundigungen eingezogen. … Ja, es ist so! Man hat das Mittel angewendet und es hat gewirkt; zudem ist es von einem Arzt verordnet, aber nicht von so einem neumodischen, sondern von einem bewährten, nun leider längst verstorbenen Praktikus; es feiert im nächsten Halbjahr das golbene Jubiläum. Schon der Großvater hat es in seiner Familie angewendet und immer mit Erfolg. Warum sollte es da Doktor Müllers Patient nicht auch nehmen? Es ist ihm zwar, als ob es seit einigen Tagen besser ginge, und Doktor Müller hat das auch gefunden, allein besser ist besser: die Tropfen werden verschluckt.

Als der Hausarzt nach einigen Tagen wiederkommt, bemerkt er zu seinem Befremden, daß sich der Zustand verschlimmert hat. Er kann das gar nicht begreifen! „Was haben Sie denn nur gemacht?“ fragt er kopfschüttelnd. Nach längerem Hin und Her kommt die Geschichte mit den Tropfen an den Tag. Zwei tiefe Falten graben sich in die Stirn des Doktors. „Daß doch die Leute das Quacksalbern nicht lassen können!“ fährt es ihm heraus.

„Aber es hat geholfen!“ wendet man ihm ein, und der Fall von Scheibners Schwiegermutter und ihrem Sohn, dem Kavalleristen, wird ausführlich berichtet. Doktor Müller macht ein Gesicht, als ob er Zahnweh hätte. „Das will ich gar nicht in Abrede stellen! Aber dann hat der Fall anders gelegen! Zwischen Magenkrankheit und Magenkrankheit ist ein Unterschied, und es können zwei Menschen lungenkrank sein und doch grundverschieden behandelt werden müssen. Ich hätte Ihnen die Tropfen auch verordnen können! Das, was Sie da mit so viel Vertrauen eingenommen haben, ist ein altes, längst bekanntes Mittel. Für Ihren Zustand jedoch ist es zu scharf.“

Die Tropfen werden infolgedessen bei Seite gesetzt, und die erste Medizin kommt wieder zu Ehren, die den Patienten schon einmal auf den Weg der Besserung gebracht hat. Aber es vergehen acht – es vergehen vierzehn Tage, und es will nicht besser werden. Da kommt ein Neffe aus der nahen Residenz zu Besuch. Er findet Tantchen recht verändert. Es wird ihm berichtet, daß Tantchen krank ist und welches Organ ihres etwas schwächlichen Körpers von der Krankheit ergriffen sei. „Hm,“ macht er bedenklich, „wer behandelt Dich denn?“

„Doktor Müller!“

„Ach Du lieber Gott!“ sagt der junge Mann lachend, „der alte Müller mit seinem Senfspiritus? Ist denn der immer noch nicht tot? Und zu dem habt Ihr immer noch Vertrauen? Der hat sich doch mit seiner Methode lange überlebt! Das ist auch noch so einer von der alten Schule! Der geht natürlich von seinen mächtigen Medizinflaschen nicht ab! ‚Alle Stunden einen Eßlöffel voll!‘ Nein, da giebt es gottlob jetzt ganz andere Heilverfahren! Thu’ mir den einzigen Gefallen, Tantchen, und laß das Ding nicht hängen! Fahre Du einmal mit mir nach der Residenz zum Doktor X.! Das ist ein junger Mann auf der Höhe der neuesten Wissenschaft, ein Mann der Zukunft und jetzt bei uns der beliebteste Arzt. Und Glück hat er mit seinen Kuren! Man kann kaum einen Platz bekommen in seinem Wartezimmer!“

Tantchen fährt mit nach der Residenz. Es ist etwas windig an dem Tage und ziemlich unfreundlich – naßkalt; Tantchen friert, besonders an den Füßen. Endlich ist man am Ziel und der Doktor X. ist zum Glück an dem Tage zu sprechen, man erobert auch einen der ersten Plätze im Wartezimmer, hat also Aussicht, vorgelassen zu werden. Und richtig – es gelingt! Tantchen berichtet von ihrem Leiden, und der Doktor X. untersucht infolgedessen das kranke Organ. Als das vorüber ist und die Patientin noch mehrere Einzelheiten liefern möchte, sieht der Vielbeschäftigte des öfteren nach der Uhr. Es warten eben noch einige Zwanzig draußen, die auch noch an die Reihe kommen sollen. Endlich geht Tantchen mit einem Rezept zu Pulvern und rosigen Hoffnungen ihrer Wege. Sie darf zwanzig Mark dafür bezahlen und erhält noch die Weisung, das nächste Mal nicht Montags zu kommen, da sei der Andrang zu stark. Tantchen hat allerdings den Eindruck, als ob der Herr recht zerstreut gewesen wäre, und als ob sich der alte Müller daheim für seine Mark, die er für jeden Besuch bekommt, eingehender mit ihrer Sache beschäftige, allein sie unterdrückt diesen Gedanken als sündhaft und schreitet weiter, dem Cafe zu, wo sie und der Neffe die Zeit bis zur Heimreise zu verbringen gedenken. Es ist dort zum Erdrücken voll und sehr heiß – aber es regnet jetzt, und man ist froh, unter Dach und Fach zu sein. Es zieht empfindlich an der Thür, wo man Platz nehmen muß, und Tantchen hat sich warm gelaufen …

Auf der Heimreise schon werden die verordneten Mittel eingenommen, und vor dem Schlafengehen wird noch ein Pulver eingerührt. Tantchen schläft ein, bald aber erwacht sie unter seltsamen Beängstigungen. Sie fühlt sich matt, es liegt ihr wie Blei in allen Gliedern, sie hat heftiges Herzkopfen und Athmungsbeschwerden. Sie richtet sich auf und wartet eine Weile – es wird schlimmer. Und jetzt stellt sich gar ein kalter Schweiß ein – großer Gott, wie wird ihr nur! So hat sich Tantchen immer einen Schlaganfall gedacht … Endlich greift sie nach der Klingel. – Dokor Müller wird aus dem Bett geholt; er kommt auch gleich, der gute alte Herr. „Um Gotteswillen, liebe Frau Schulze, was haben Sie denn gemacht?“ fragt er verdutzt, während er seinen Stock mit dem Elfenbeinknopf in eine Ecke lehnt.

„Nichts! Nichts!“ versichert sie. Aber endlich, durch seine Kreuz- und Querfragen in die Enge getrieben, kommt es sehr gegen ihren Willen an den Tag: ja, sie ist in der Residenz gewesen und hat sich dort wahrscheinlich erkältet.

„Das würde sich wohl kaum so schnell und auf diese Weise zeigen,“ widerspricht der alte Herr, während er ein Rezept schreibt. „Waren Sie etwa bei einem Arzte?“ setzt er sarkastisch hinzu.

„Du lieber Himmel!“ kreischt Tantchen laut auf, „es wird doch nicht von den Pulvern sein!“ und vor Todesangst zitternd, bekennt sie ihre Untreue.

„Wo haben Sie denn das Rezept?“ Er liest und lacht dann. „Ja – das hätte ich Ihnen auch verschreiben können. Es ist ein ganz vortreffliches Mittel, aber bei Ihnen wagte ich nicht es anzuwenden. Es regt die Herzthätigkeit zu sehr an, und Sie haben einen kleinen Herzfehler, den man berücksichtigen muß. Sie haben mit dem Kollegen natürlich nur von Ihrem gegenwärtigen Leiden gesprochen, und da hat er selbstverständlich nur das von der Krankheit ergriffene Organ untersucht. Er hatte es wohl sehr eilig?“

„Allerdings!“

„Sehen Sie, hätten Sie mir etwas von Ihrer Absicht gesagt, so hätte ich Ihnen ein Briefchen mitgegeben, um den Kollegen auf mancherlei aufmerksam zu machen, was der Hausarzt durch jahrelange Behandlung eines Patienten bemerkt, was man berücksichtigen muß und nicht auf den ersten Blick sieht. Aber da muß es immer hinter dem Rücken des Arztes gehen! Ich habe ja nichts dagegen, wenn ein zweiter Arzt zu Rathe gezogen wird, dann hat

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 734. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_734.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2023)