Seite:Die Gartenlaube (1891) 730.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

es nur ein paar Worte wären, aber sie saß regungslos und hörte auf die Stimme: „Du wolltest frei sein, und nun bist Du frei!“ Draußen hörte man die Treppe – das Zimmer lag daneben – unter einem langsamen gewichtigen Tritt knarren, denn man hatte die Teppiche nach dem gestrigen Fest fortgenommen; das war der Geschichtsprofessor, der oben ihren Geschwistern die Stunde gegeben hatte; gleich darauf stürmte es in flüchtigen Sätzen herunter, immer zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, das waren Gerda und Wolfgang, die dem Schul- und Stundenzwang für heute glücklich entronnen waren. Dann wurde, nach einem heftigen Thürenzuschlagen, wieder alles still. –

Andree faßte sich endlich ein Herz und nahm Stellas Hand in die seine.

„Sie zürnen mir, ich habe Ihnen weh thun müssen,“ sagte er flehentlich, „Sie werden mich vermeiden fortan, aber – ich ertrage das nicht!“

„Nein!“ erwiderte sie leise. „Ich danke Ihnen!“

Er konnte es nur nach seiner Weise auffassen, ihren Gedankengang konnte er unmöglich errathen.

Die kleine Hand bebte ein wenig, als er seine Lippen immer wieder darauf drückte, aber sie machte keinen Versuch, freizukommen. Er sog das Bild, das seine ganze Künstlerphantasie auf einen Schlag gefesselt hatte, mit andächtigem Blick in seine Seele, während er seine Lippen in völligem Selbstvergessen auf dieser schönen Hand ruhen ließ, und dann sagte er leise, als sei dies ein großes Geheimniß zwischen ihm und ihr, um das kein anderer wissen dürfe:

„Ich darf Sie wiedersehen?“

Sie neigte ein wenig ihr Haupt und versuchte ein Lächeln, das matt und schattenhaft auf ihren Lippen erstarb – und Andree ging von ihr fort hinaus in den lichten Sonnenschein, und in seinem Herzen wogte es durcheinander von leidenschaftlichem Glück und leidenschaftlichem Schmerz, denn noch nie hatte er Werner Troost so heiß geliebt und so heiß betrauert wie heute! –




12.

Die Uebersiedlung der Familie Brühl nach ihrer Villa auf der Uhlenhorst war noch um einige Tage hinausgeschoben worden. Einmal zeigte sich das Wetter sehr unfreundlich: der „wunderschöne Monat Mai, da alle Knospen springen“, war nun freilich da, aber die Knospen sprangen darum doch noch nicht, sie wagten sich kaum hervor bei dem rauhen Nordwest, der vom offenen Meer her wehte. Außerdem wollte Stella Brühl ihren neuesten Plan mit dem Empfangszimmer verwirklicht sehen, und zu diesem Zweck fuhr sie sehr oft aus, Dudu, den Negerknaben, hinter sich, und prüfte und verwarf und bestellte … das Zimmer sollte für alle eine Ueberraschung werden, und sie wollte an die Einweihung desselben ein kleines Frühlingsfest in Uhlenhorst knüpfen, das war beschlossene Sache – im Beschließen und Ausführen solcher Dinge besaß die junge Dame eine ganz erstaunliche Begabung.

Inzwischen hatte sich die Angelegenheit mit dem Prinzen günstig gelöst. Abends um sieben Uhr, am Tage nach dem Brühlschen Fest, hielt der junge Kavalier ein zierliches Billet von Fräulein Stella Brühl in Händen, worin ihm diese mittheilte, Herr Andree habe sich über den Besitz der fraglichen Marmorbüste bei dem Original derselben vollkommen korrekt ausgewiesen, und soeben – um halb sieben Uhr abends – sei besagtes Kunstwerk in den Besitz der rechtmäßigen Eigentümerin übergegangen. Der Prinz möge, falls er sich für das corpus delicti noch interessiere, gelegentlich einmal herkommen, um es anzusehen, jedenfalls aber Herrn Andree von jedem Verdacht eines zweifelhaften Benehmens freisprechen. Dieser habe ihr selbst die Art, wie er zu der Büste gekommen sei, auseinandergesetzt, und sie sei dadurch vollauf zufriedengestellt, erkläre sich auch bereit, jedem, der eine Aufklärung über diese Angelegenheit wünsche, eine solche zu geben.

Selbstverständlich interessierte sich der Prinz für die Büste, und selbstverständlich wünschte er auch, die bewußte Aufklärung zu erhalten. So fand er sich denn schon am nächsten Tage um die Besuchszeit in dem Hause am Alsterdamm ein, und es kam zu einer höchst spannenden Scene, bei welcher ihm die schöne Stella in einem ganz neuen Licht erschien. Freilich war die Frau Senatorin während der ganzen Visite des Prinzen zugegen, allein die Dame störte weiter nicht, sie saß mit lässig halbgeschlossenen Augen am Fenster und ließ ihre Brillantringe funkeln und ihre Stella sprechen. Da erfuhr denn der Prinz eine geheimnißvolle und sehr rührende Geschichte von einem begabten jungen Bildhauer – der Name wurde ihm vorenthalten – der die entzückende Senatorstochter zum Sterben geliebt habe und eigentlich an dieser – natürlich unerwiderten – verzehrenden Leidenschaft hingesiecht sei. Vor seinem Tode aber habe er sein höchstes Können, seine volle Begeisterung, seine ganze Liebes- und Leidensgeschichte in ein Kunstwerk gelegt, das er sterbend seinem besten Freunde, dem Maler Andree, anvertraut habe, um es als letzten Gruß, als ewiges Andenken ihr, der sein ganzes Sein gehört hatte, zu senden.

Dies alles hatte der Prinz nur bruchstückweise, mit vielfachen Unterbrechungen, von der jungen Dame zu hören bekommen, es hatte vieler zarter Fragen, taktvoller Umschreibungen seinerseits bedurft, um endlich ein klares Bild der Sachlage zu gewinnen. Es entzückte ihn sehr, das herrliche junge Wesen so weich, so gefühlvoll, so erschüttert zu sehen. Die umflorte Stimme, die feucht verschleierten Augen, die rührend schüchterne Haltung, die Art, wie sie einzelne Thatsachen, die hervorzuheben ihre Bescheidenheit sich sträuben mochte, nur andeutete – dies alles ließ dem Fürsten die verwöhnte Ballkönigin so fremd und doch so hinreißend erscheinen, daß er mehr denn je bezaubert war. – Als solchergestalt die Stimmung genügend vorbereitet war, erschien der feierliche Augenblick, da Stella ein dunkles Tuch von der Marmorbüste wegzog, welche auf einem Ebenholzsockel in einer Ecke des Zimmers stand. Der fürstliche Besucher bewunderte das Kunstwerk weniger aus Sachkenntniß als aus persönlichem Enthusiasmus und brauchte eine sehr lange Zeit, um zwischen dem Original und dem Bildwerk Vergleiche anzustellen. Die mit ihren Brillantringen liebäugelnde Mama am Fenster konnte, wenn sie den Blick ein wenig hob, deutlich wahrnehmen, wie der Prinz ihre Tochter aus seinen schwermüthigen Augen immer unergründlicher anschaute und wie er heute den Fürsten, der sich zu einer Hamburger Bürgerstochter herabläßt, schon ganz vergaß und lediglich den Verliebten herausstellte, der alle Mühe aufwendet, um dem Gegenstande seiner Leidenschaft im besten Licht zu erscheinen.

Als Stella daher am Schluß des merkwürdig lang ausgedehnten Besuchs den Prinzen fragte, wie lange er noch in Hamburg zu bleiben gedenke, antwortete er ohne Besinnen: „Das hängt lediglich von Ihnen ab, meine Gnädigste!“ und küßte dabei die Hand der Dame mit so unzweideutigem Ausdruck und Feuer, daß es nur zu gerechtfertigt erschien, wenn diese fünf Minuten später, als der Gast gegangen war, ihrer Marmorbüste zunickte wie einer stummen Vertrauten und leise sagte: „So! Den hätten wir fest! Jetzt brauche ich nur zu wollen … aber ich will noch nicht!“ –

Andree hatte vom Prinzen Riantzew ein paar Zeilen erhalten, die des Schreibers Ueberzeugung von der völligen Grundlosigkeit des Vorwurfs von gestern darthaten. Das Billet war kurz und kühl, doch unanfechtbar in seiner höflichen Fassung. Andree las unschwer zwischen den steif aneinandergereihten Zeilen, daß es dem Prinzen höchst unangenehm war, einen Irrthum berichtigen zu müssen, und daß er herzlich gern dem Ueberbringer der Marmarbüste einen Denkzettel gegeben hätte; es sprach eine persönliche Antipathie aus dem Briefe, die der Maler durchaus erwiderte.

Ihm war unsagbar unruhig zu Sinn; rastlos trieb es ihn umher. Stundenlang konnte er am Ufer des Binnenhafens auf und ab wandern und das Treiben auf den Flußschiffen betrachten, die mit ihrer mannigfaltigen Ladung hier vor Anker lagen. Oder er ließ sich in einer Jolle hinausrudern in den freien Strom, wo die großen Auswandererschiffe und die zahlreichen fremden Dampfer verkehrten. Das Leben dort fesselte ihn immer aufs neue: weißgekeidete Hindus, dünnzopfige Chinesen, majestätische Araber, kaffeebraune Marokkaner, lärmende Italiener und behende Japaner verrichteten hier Matrosendienste oder stellten auch selbst die Passagiere vor – und diese Abwechselung in der Bauart der Schiffe, von dem dreimastigen Ostindienfahrer bis zum holländischen Kutter oder zum zierlichen englischen Steamer, dem Privateigenthum eines reichen Lords, auf welchem alles so neu und elegant aussieht, als wäre es eben aus der Watte gewickelt. Hier kreuzt ein Zollkutter vorüber, dort schießen die schmalen Jollen wie flinke Fischchen einher,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 730. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_730.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2023)