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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

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Das Ende der Jungfrau von Orleans.

Von Dr. J. Wychgram.

Schiller hat von der Freiheit des tragischen Dichters gegenüber geschichtlichen Stoffen nirgends ausgiebigeren Gebrauch gemacht als in seiner „Jungfrau von Orleans“. Er hatte anfänglich die Absicht, die Heldin in seiner Dichtung sterben zu lassen, wie sie in der Geschichte gestorben ist: auf dem Scheiterhaufen. Naheliegende Erwägungen haben ihn davon abgebracht.

Ist das geschichtliche Ende der Jeanne d’Arc im dichterischen Sinne nicht tragisch zu nennen, so ist es darum für den gewöhnlichen Begriff nicht weniger traurig und ergreifend. Als ein Opfer heimtückischer Grausamkeit geht das kaum zur Jungfrau herangereifte Mädchen in den Tod, auf dem dunklen Hintergrunde der Bosheit und Selbstsucht eine von Unschuld und Hingebung hell umstrahlte Gestalt.

Sie ist die einzige geschichtliche Persönlichkeit, in deren Verehrung alle heutigen Franzosen vom Klerikalen bis zum äußersten Radikalen völlig einmüthig sind, und gerade seit dem Jahre 1870 bringt man der Jungfrau einen wahren Kultus entgegen: in zahlreichen Städten erheben sich ihr neue Denkmäler, ja man hat allen Ernstes und unter vielem Beifall den Vorschlag gemacht, ihren Geburtstag zu einer Art von Nationalfest zu gestalten, das besonders in den Schulen durch ernste Feierlichkeiten begangen werden müsse. Und in der That verdient die Jungfrau von Orleans das dankbare Gedächtniß ihres Volkes. Sie war es, die in frommer Begeisterung ihre Heimath Domremy verließ, um in dem unglücklichen Kampf ihres Vaterlandes gegen die vom französischen Norden aus siegreich vordringenden Engländer eine plötzliche Wendung herbeizuführen und der sinkenden Macht ihres Königs, des unfähigen und schwachen Karl VII., die rettende Stütze zu werden. Ihr gelang es, dem entmuthigten Heere der Franzosen den Glauben an ihre göttliche Sendung, von dem sie selbst entflammt war, und damit neuen Muth einzuflößen; Orleans, das den Engländern allein noch den Zugang zum Land südlich der Loire verwehrte, wurde 1429 durch ihr Eingreifen von der feindlichen Belagerung befreit; ein neuer Sieg, den sie erfocht, setzte sie in den Stand, Karl VII. im Juli desselben Jahres zur Krönung nach Reims zu führen. Allein nicht daß sie Orleans entsetzt und die Krönung des Königs ermöglicht hat, begründet bei den heutigen Franzosen in erster Linie jenes Gefühl der Ehrfurcht, sondern daß sie von der Hand der Fremden unter grausamen Formen getötet wurde und bis zum letzten Augenblicke die Liebe zu ihrem Vaterlande im Herzen und auf den Lippen gehabt hat. Und die letzten Schicksale Johannas sind auch das Merkwürdigste ihres außerordentlichen Lebensganges.

Die Jungfrau von Orleans.
Nach der Statue von E. Frémiet

Im Mai 1430 wurde die Jungfrau bei einem Ausfall aus der königstreuen Stadt Compiègne von den mit England verbündeten Burgundern gefangen; Herzog Philipp von Burgund ließ sie in ein festes Schloß setzen. Vergeblich strebte das unglückliche Mädchen danach, sich zu befreien, einmal sogar durch Herabspringen von einem sechzig Fuß hohen Thurm; auch dieser kühne Versuch mißglückte: man fand sie bewußtlos, doch ohne ernstere Verletzung, und brachte sie in den Kerker zurück. Aus Philipps Händen ging sie in die der Engländer über. Wäre es nach dem ungestümen Wunsche der niederen englischen Offiziere und Mannschaften gegangen, so würde man sie sofort als „Empörerin“ hingerichtet haben. Das wollte jedoch die englische Regierung nicht. Zuvor sollten die englischen Niederlagen als ein Zauberwerk des Teufels erscheinen und das ganze Auftreten der Jungfrau – zugleich damit die Sache des französischen Königs – als eine gottlose Unternehmung gebrandmarkt werden.

Im Januar 1431 befahl König Heinrich von England, die Johanna, „genannt Jungfrau“, vor einem geistlichen Gericht auf ihre Rechtgläubigkeit zu prüfen, war aber schlau genug, hinzuzufügen, falls in Glaubenssachen ihre Unschuld erwiesen würde, so solle sie dem weltlichen Gericht zur Aburtheilung wegen Empörung zurückgegeben werden. In Rouen, im alten Schlosse der normännischen Herzoge, trat dieses Gericht zusammen; ein französischer Geistlicher Namens Cauchon, ein eigennütziger, gewissenloser Mensch, der sich den Engländern verkauft hatte, führte den Vorsitz, an seiner Seite der stellvertretende Großinquisitor von Frankreich, Lemaître. Die übrigen Mitglieder waren Leute von anerkannter Willfährigkeit und Charakterlosigkeit, denen allen an der Gunst der Engländer und an ihrem eigenen Vortheil tausendmal mehr lag als an der Gerechtigkeit.

Die Jungfrau befand sich in peinlicher Haft in einem dunklen Zimmer des Schloßthurms. Nahe dem Bette stand ein starker Holzblock von sechs Fuß Höhe, der mit mehreren dicken Eisenringen versehen war, Johanna trug Tag und Nacht Fesseln an den Beinen, die bei Nacht durch Ketten an dem Holzblock befestigt wurden. Fünf englische Wächter bewachten sie beständig, drei in ihrem Zimmer, zwei außerhalb desselben. Das Gefängniß war weltlicher Art; Johanna hat während des Prozesses fortwährend ein geistliches – nach dem Gebrauch der Zeit milderes – Gefängniß verlangt, auf das sie als vor ein kirchliches Gericht gestellt Anspruch hatte. Man hat ihre Forderung nicht erfüllt; sie wurde ganz abgeschlossen gehalten, nur Cauchon hatte Zutritt, wann er wollte.

Die Anklage erstreckte sich auf verschiedene Punkte. Einmal machte man ihr ein Verbrechen daraus, daß sie Männerkleider getragen habe; auch im Gefängniß hatte sie dieselben nicht ablegen wollen, da ihre Heiligen ihr befohlen hätten, sie solange zu tragen, bis sie Frankreich von den Engländern befreit habe. Sodann aber lag den Richtern daran, ein Geständniß von ihr zu erlangen, daß sie mit Geistern Umgang gepflogen und sich dadurch der Ketzerei schuldig gemacht habe. Ebenso sollte die Ketzerei durch eigentlich dogmatische Fragen erwiesen werden.

Wie verhielt sich nun Johanna während des Prozesses und der Verhöre?

Es würde zu weit führen, den ganzen Verlauf der Verhandlungen zu schildern, wie er uns aus den unversehrt erhaltenen Akten entgegentritt. Beim Lesen dieser Akten wird man wie von einem Trauerspiel ergriffen. Die Jungfrau, abgehärmt und durch die herbe Haft und die beständige Erregung in ihrer Gesundheit erschüttert, erscheint gefaßt, mit einer fast überirdischen Hoheit vor den Richtern. Ihr Ton verräth mitunter, daß sie gegen diese von England gedungenen Landsleute tiefe Verachtung empfindet. Ihre Aussagen sind kurz, bestimmt, klar; sie hat die volle Gewalt über sich selbst; man erstaunt, was für Antworten dieses einfache neunzehnjährige Bauernkind, das weder lesen noch schreiben konnte, auf die schlau gestellten Fragen der in allen Spitzfindigkeiten geübten Theologen und Juristen gab.

Man legte ihr unter anderem die Frage vor, ob sie glaube, ihres ewigen Seelenheils sicher, also in der Gnade Gottes zu sein. Wenn sie dies bejahte, so war sie ohne weiteres der Ketzerei überwiesen, denn die Kirche verdammte diese Anschauung, durch welche die kirchliche Sicherung des Heils in den Gnadenmitteln bedroht erschien. Johanna erwiderte: „Wenn ich nicht in der Gnade bin, so bitte ich Gott, mich darein zu versetzen; wenn ich darin bin, mich darin zu erhalten; denn ich wollte lieber sterben, als nicht in der Gnade Gottes sein.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 716. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_716.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2023)