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diesen Fanatikern als heißbegehrte Heilmittel. So lesen wir bei du Prel („Der Salamander“): „Eine Bedrückung der Brust erheischt, daß man mit äußerster Kraft darauf schlage; excessive Kälte oder verzehrende Hitze, die plötzlich den Konvulsionär ergreifen, mahnen ihn, daß es nöthig ist, ihn mitten in Flammen zu stellen; ein lebhafter Schmerz, wie wenn eine Eisenspitze Fleischtheile durchdringt, erfordert einen Degenstich genau am schmerzhaften Orte, wäre es selbst am Halse, im Munde oder in den Augen, wovon zahlreiche Beispiele gesehen wurden; wie heftig aber auch der Stoß des Degens sein mag, so kann doch die schärfste Spitze das zarteste Fleisch nicht durchdringen, selbst nicht die Augen der Konvulsionäre … Die tödlichsten Schläge und Dinge von der schädlichsten Beschaffenheit verwandeln sich in wohlthuende Heilmittel … Die Konvulsionäre stellen sich mitten in die Flammen, legen sich – in einzelnen Fällen sogar stundenlang – in das Feuer, gehen auf glühenden Kohlen und essen dieselben, ohne sich zu verletzen, ohne daß ihre Haare oder Kleider auch nur versengt werden.“

Wer die einschlägigen Werke über Völkerkunde kennt, der weiß, daß darin wahrheitsgetreue Berichte über ähnliche Erscheinungen namentlich bei den noch ganz ungebildeten, rohen Volksstämmen in Menge anzutreffen sind, so daß Adolf Bastian, einer der bedeutendsten Forscher auf diesem Gebiete, mit Recht sagen kann: „Gerade bei den Naturvölkern finden wir die meisten der Erscheinungen, welche wir bei uns nur künstlich und nicht ohne Gefahr für die Versuchsperson erzeugen können, als etwas mehr oder weniger Normales vor.“ – Angesichts eines so umfangreichen und gewichtigen Beweismaterials, welches sogar die Vertreter der Naturwissenschaft liefern, muß jeglicher Zweifel verstummen, muß die Auffassung der Sache als Betrug für unhaltbar erklärt, müssen die Leistungen der Aïssaua und andere derartige wunderbare Vorgänge als unanfechtbar und echt anerkannt werden.

Wie aber soll man nun eigentlich all das geheimnißvoll Unerklärliche erklären? Die gläubigen Anhänger der verschiedenen Religionsgemeinschaften sind um eine sie vollständig befriedigende Auskunft durchaus nicht verlegen. Die Mohammedaner glauben fest, daß all die Wunderdinge der Aïssaua durch deren Stifter, den „heiligen“ Aïssa, bewirkt werden; die Buddhisten lehren, niedere, erdgebundene Geister, die weder gut noch böse sind, verrichten dies alles. Selbstverständlich genügen solche Erklärungen dem auf der Bildungshöhe seiner Zeit stehenden, aufgeklärten Weltbürger nicht. Er verlangt eine strenge naturwissenschaftliche Deutung. Und diese kann ihm in der That dargeboten werden.

Einige Gelehrte wie z. B. Braid, Charcot, Richet, Lombroso, Mendel sehen in den wundersamen, außersinnlichen Erscheinungen bei den arabischen und indischen Fakiren und in ähnlichen sonderbaren Zuständen weiter nichts als ekstatische Hypnose.

Nun ist allerdings Schmerzlosigkeit in der Hypnose ganz unbestreitbar festgestellt worden. Nadelstiche in Wange, Daumenballen, Arm und andere Körpertheile werden nicht gefühlt. Schmerzlos werden Zähne ausgezogen und die Mandeln herausgeschnitten. Auch schon größere Operationen wurden manche von französischen und englischen Aerzten an Hypnotisierten vorgenommen, ohne daß die Kranken den geringsten Schmerz empfanden, so von Récamier, Esdaile, Braid. Doch Schmerzlosigkeit allein genügt nicht zur Erklärung aller geschilderten Vorgänge.

Die Aïssaua waren wie der gehörnte Siegfried unverwundbar; wenigstens sah man nach den augenscheinlich tiefen Verwundungen keine Spur von einer Narbe, auch floß kein Tropfen Blut. Nun besuchte ich eine Vorstellung des Hypnotiseurs Donato in Paris und beobachtete das folgende Experiment.

Donato ließ sich von einer Dame eine ziemlich dicke stählerne Hutnadel geben, bohrte dieselbe durch die Muskeln des unteren Armes eines Hypnotisierten, zog sie dann wieder heraus, machte einige Striche mit der Hand über die verwundete Stelle – und weder Blut noch Wunde oder Narbe war zu bemerken. Dr. Moll („Der Hypnotismus“ S. 82) schreibt: „Dalboeuf erzeugte symmetrische Brandwunden und machte die eine Wunde durch Suggestion (d. h. durch eine Eingebung, durch einen Befehl an den Hypnotisierten) schmerzlos. Hierbei wurde beobachtet, daß die analgetische (schmerzlose) Wunde viel größere Tendenz zur Heilung und insbesondere keine Tendenz zeigte zu einer entzündlichen Ausbreitung in die Umgebung.“

Diese Proben scheinen geeignet zu sein, die Unverwundbarkeit und Feuerfestigkeit der Aïssaua zu erklären. Denn wenn schon in der einfachen Hypnose kleinere Wunden sich sofort schließen, ohne Narben zu hinterlassen, wenn Brandwunden schmerzlos gemacht werden können und dann verhältnißmäßig schnell heilen, warum sollte es nicht möglich sein, daß in jener religiösen Verzückung, die wir einstweilen als hochgradige Hypnose betrachten wollen, größere Verletzungen durch Dolche und Schwerter schmerzlos bleiben und narbenlos verschwinden, und daß Brandwunden, die durch Belecken und Anfassen eines glühend gemachten Eisens etwa entstehen, sofort geheilt werden? Der Unterschied ist ja nur ein gradweiser, aber kein wesentlicher. Aehnlich verhält es sich mit dem Verschlingen von schädlichen Substanzen wie von Glas, Steinen, Nägeln, Skorpionen und Schlangen ohne nachtheilige Folgen für den Körper. Hypnotisierte trinken auf die betreffende Suggestion hin Tinte für Wein, essen Zwiebeln für Birnen, riechen Ammoniak für kölnisches Wasser, genießen Wasser anstatt Branntwein, worauf sie berauscht werden, und umgekehrt ist es vorgekommen, daß sich nach dem Genuß berauschender Getränke die Wirkung des Alkohols nicht gezeigt hat, wenn man ihnen vorspiegelte, daß sie Wasser trinken.

Noch andere Illusionen, d. h. Einbildungen, daß ein Ding etwas anderes sei als das, was es wirklich ist, können erzeugt werden. Der Däne Hansen machte seine Hypnotisierten z. B. glauben, daß sie ein Kind im Arme wiegen, und es war ein Kopfkissen; der Amerikaner Dods verwandelte ihnen einen Rohrstock in eine Schlange, ein Taschentuch in einen Vogel, ein Kind in ein Kaninchen; der Franzose Richet ließ seine Versuchspersonen sich als Greis, Kind, Pfarrer, Neger, als Katze, Hund, Frosch fühlen, worauf sie ganz das Benehmen dieser Personen oder Thiere annahmen, und als letztere sprangen sie über Tisch und Stühle, heulten, bellten oder quakten. Moll sagt: „Gerade bei den Persönlichkeitsänderungen resp. der Verwandlung der Hypnotischen in Thiere werden wir lebhaft an das Mittelalter erinnert, wo einzelne Menschen sich in Thiere verwandelt glaubten; am häufigsten war die angebliche Verwandlung in den Wolf.[1] Solche Menschen fielen andere an, zerfleischten, verzehrten sie und zeigten überhaupt thierische Rohheit und thierische Triebe.“

Wenn dies alles möglich ist, so ist es ebenso gut möglich, ja höchst wahrscheinlich, daß ein Aïssauî infolge der dahinzielenden Eingebung des Scheichs, der sein Hypnotiseur ist, sich für einen Strauß, einen Löwen oder ein Kamel hält und dann die verschiedensten schädlichen Stoffe ohne jeglichen Nachtheil hinunterwürgt, da er das letztere vielleicht unter der vorher gegebenen Suggestion thut, daß der Kaktus ein Stück Brot, die Schlange ein wohlschmeckender gebratener Aal sei.

So wären denn die seltsamen, grausigen Vorgänge bei den A[ï]ssaua ihres unbegreiflichen, wunderbaren Charakters entkleidet – und auf ganz natürliche Weise erklärt durch den Hypnotismus; nur bedarf eben dieser als eine neue, bisher wenig gekannte Erscheinung für die Wissenschaft selbst noch einer befriedigenden Erklärung. Jedoch muß man sich wohl hüten, die religiöse Verzückung einzig und allein als Hypnose anzusehen. Preyer hat ganz recht, wenn er sagt: „Diese wenig bekannten Zustände sind den hypnotischen zum Theil verwandt, aber ätiologisch (d. h. ihrer Entstehungsursache nach) jedenfalls von ihnen gänzlich verschieden und sehr untersuchungswerth.“ Gewiß ist jener Zustand, wie wir ihn unstreitig bei den Aïssaua vorfinden, noch etwas anderes als bloßer Hypnotismus und auch durch wesentlich andere Mittel bedingt, denn er tritt erst nach jahrelanger strengster Bußübung ein. Aber eben so gewiß ist, daß die moderne Wissenschaft sich auf dem richtigen Wege zur Erklärung dieser bisher so verborgenen Dinge befindet, und daß sie schließlich den Nebelschleier von den geheimnißvollen Wundern im Menschen und in der Natur unbarmherzig hinwegziehen und uns das sonnige Land zeigen wird, wo in sieghaftem Glanze die Wahrheit wohnt.




  1. Daher der uralte Volksglaube an den Wärwolf, d. i. einen Menschen, der nachts in Wolfsgestalt umherirrt.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1891). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1891, Seite 664. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_664.jpg&oldid=- (Version vom 4.10.2023)