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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

kräftig gegen die Schneide. Das Schwert grub sich förmlich in den Bauch hinein, und doch war nach der Prozedur keine Spur von Verwundung zu sehen. Den oben beschriebenen Dolch erfaßte der Aïssauî am hölzernen Griff und stieß ihn vom Innern des Mundes aus durch die Wange, sodaß die Spitze einen Zoll lang daraus hervorragte; mit den Nadeln durchstach er sich die Ohrläppchen und die Haut an der Gurgel. Niemals jedoch floß ein Tropfen Blut, und als ich ihn später, d. h. gleich nach seinem Auftreten, gegen ein besonderes Trinkgeld genau untersuchte und betastete, konnte ich nicht die geringste Wunde oder die winzigste Narbe erspähen.

Endlich öffnete der Scheich auch noch die Schachtel, nahm eine Schlange heraus und reichte sie dem Aïssauî hin. Als dieser sie erblickte, geberdete er sich wie ein wildes Vieh, stieß rohe, gräßlich gellende Töne hervor, stierte wie ein Verrückter die Schlange an, packte sie, schlug und mißhandelte sie so lange, bis sie in die größte Wuth gerieth, bis ihre Aeuglein vor Zorn blitzten und ihr Doppelzünglein nach ihm hervorschnellte. Dann ließ er sich von ihr an den nackten Körperstellen des Gesichtes, des Halses und der Brust beißen. Er warf sie auf den Boden, fiel selbst nieder auf Hände und Füße, spielte mit ihr wie die Katze mit der Maus, schnappte nach ihr mit den Zähnen, faßte sie im Genick, schüttelte sie so wie es ein Hund mit einer Ratte thut, zerfleischte sie, biß ihr den Kopf ab und fraß sie unter beständigem Ausstoßen eines kläglichen Geheuls bei lebendigem Leibe zur Hälfte auf. Nach dieser letzten Leistung tanzte der Fakir wieder in der schon geschilderten Weise, wobei aber das Tempo immer langsamer wurde, bis er, nachdem er den gelben Turban des Scheichs mit seinen Lippen berührt hatte, wieder ganz zu sich kam und sich ruhig auf seinen Platz setzte.

Auf die Frage einer Dame, ob eine solche Schlangenmahlzeit wohlschmecke, sprang sogleich ein anderer Derwisch auf das Podium, wurde in wenigen Sekunden vom Taumel ergriffen und verzehrte noch einige Schlangen und Skorpione, die er zuvor ebenfalls in die äußerste Wuth gebracht hatte.

Den Schluß bildete das Auftreten des Scheichs selbst. Merkwürdigerweise bemerkte man an ihm keine Verzückung, wenigstens that sich dieselbe nicht auffällig und geräuschvoll kund. Er schien ganz bei gesundem Verstande zu sein. War er vielleicht schon soweit in seiner geheimnißvollen Kunst vorgedrungen, daß er zu seinen Schaustücken der Verzückung nicht mehr benöthigte? Kurz, er nahm aus dem Behälter einen Skorpion, legte ihn auf das Kalbfell der Trommel, reizte und drückte ihn mit seinen Fingern unbarmherzig, bis das Thierchen zornig seinen Stachel emporstreckte. Dann ließ er sich an Lippe, Nase und Zunge stechen und verspeiste ihn endlich ganz. Auch mit dem Dolche brachte er sich verschiedene scheinbare Verletzungen bei und führte denselben sogar schließlich in die Augenhöhle, aber ohne die geringste Spur von Aufregung oder Schmerz. Ganz ruhig und gelassen, als ob er gar keine besondere Leistung vollbracht habe, begab er sich wieder auf seinen Sitz.

Der grauenerregende, düstere Eindruck, den diese gräßlichen Vorstellungen auf mich gemacht hatten, war ein ganz gewaltiger und nachhaltiger, und das um so mehr, als ja Sinnestäuschung oder Betrug völlig ausgeschlossen war. Wohl waren die Vorführungen, als religiöse Uebungen betrachtet, so abschreckend und bestialisch, daß man sich von einem derartigen Gottesdienste als von einer rohen Verirrung des menschlichen Geistes mit Schauder abwenden muß, aber doch nöthigte die dabei bekundete Herrschaft über die bisher bekannten Lebensgesetze gleichzeitig dem Forscher eine mit Grausen gemischte geheime Bewunderung ab.

Wer sind nun aber jene Aïssawîjja oder Aïssaua, deren schauerliche Künste wir hier beschrieben haben? Es sind, kurz gesagt, eine Art „heulender Derwische“, Angehörige einer mohammedanischen religiösen Gesellschaft mit geheimer Organisation, die im Maghrib, d. h. im nordwestlichen Afrika, namentlich in Marokko und Algerien, weit verzweigt ist, in hohem Ansehen steht und einen großen, gefürchteten Einfluß ausübt. Die Zahl derartiger Brüderschaften beläuft sich in Algerien allein auf ein Dutzend, im ganzen Islam aber auf etwa hundert, von denen die bedeutendsten in Afrika die Marabuts, die Aïssawîjja, der Rufai- und der Snussiorden sind. Der Orden der Aïssaua hat nicht, wie man vielleicht meinen könnte, Aehnlichkeit mit unsern christlichen Mönchsorden. Seine Mitglieder leben nicht beisammen in Klöstern, sich nur religiöser Beschaulichkeit und Andachtsübungen hingebend, sondern sie gehören den verschiedensten Gesellschaftsklassen an, stehen mitten im bürgerlichen thätigen Leben als Kaufleute, Handwerker etc. und kommen für gewöhnlich nur einmal wöchentlich zur Hadra (d. i. Vereinigung der Brüder) in die Zauîa (d. i. die als Versammlungsort dienende Moschee), um dort durch Gebete und religiöse Ceremonien, durch Erfüllung des vorgeschriebenen Rituals oder durch Vorstellungen wie die beschriebenen das Andenken ihres Stifters zu feiern und zu ehren. Die Gründer der verschiedenen Sekten sind alle ohne Ausnahme hochangesehene, verehrte, ja vergötterte Heilige des Islam, von deren Leben und Wirken viele Wunderdinge berichtet werden.

Das hohe Interesse für diesen Gegenstand erfordert es wohl, etwas näher auf Entstehung, Einrichtung und Zweck dieser Brüderschaften, hauptsächlich aber der Aïssaua, einzugehen, wodurch zugleich auch ein gründliches Verständniß für die geschilderten Vorgänge angebahnt werden dürfte. Bei dieser Darstellung werde ich mich unter genügender Berücksichtigung der deutschen und englischen Autoren im wesentlichen an die neuesten Schriften der weitgereisten, zuverlässigen französischen Forscher und Gelehrten Henri Duveyrier, Louis Rinn und Nap. Ney halten.

Die Orden sind alle ausnahmslos wirkliche „geheime Gesellschaften“. Ursprünglich einen rein moralischen und religiösen Zweck verfolgend, haben manche in letzter Zeit infolge der Bedrängung des Islam von seiten der christlichen Völker auch die Politik in ihr Programm aufgenommen. Wie ein Netz umspannen sie die gesammte mohammedanische Welt und ihre Sendboten eilen mit geheimen Weisungen vom Sudan bis zum Kaukasus, vom Atlas bis zum Ganges.

Jeder Orden hat seine besonderen Aufnahmeförmlichkeiten, Grade, Paßworte und Erkennungszeichen. Wer in einen Orden aufgenommen werden – oder wie die Muselmänner sich ausdrücken: „die Rose nehmen oder empfangen“ – will, der hat zunächst eine mehr oder weniger lange Prüfungszeit zu bestehen, die bei manchen Gesellschaften „tausend und einen Tag“ dauert. Bei andern, wie z. B. bei den Kaderya, ist die Einführung leicht und die Prüfungen sind kurz. Hat der Aufzunehmende diese bestanden, so wird er als „Chuan“, d. i. Bruder, in die Geheimnisse des ersten „Grades“ eingeweiht und erhält das entsprechende „Paßwort“, den „Dzikr“, der gewöhnlich Anrufungen Gottes enthält und sich aus ganz bestimmten Versen des Korans zusammensetzt, die in einer gewissen Ordnung gegenseitig abgefragt werden. Außerdem erkennen sich die „Eingeweihten“ oder „Wissenden“ an ihrem ganzen Auftreten, an der Farbe der Kleider, an unmerklichen Zeichen am Gewande und an der Kopfbedeckung, und schließlich an einem ganz besonderen Handgriff, so daß Betrug von uneingeweihter Seite durchaus unmöglich ist.

Der „Dzikr“ des ersten Grades ist bei allen Orden sehr einfach; denn „es stehet geschrieben“ durch den Propheten: „Der Glaube ist um so reiner, je einfacher das Gebet ist.“ Und so lautet denn z. B. dieser Dzikr bei den Aïssaua fast nur: „Es giebt keinen Gott außer Gott, dem Mächtigen, dem Barmherzigen, dem Einzigen!“ Er muß täglich fünfmal viele tausendmal hintereinander hergesagt werden,[1] und zwar bei Sonnenaufgang, um neun Uhr morgens, um zwei Uhr und vier Uhr nachmittags und am Abend bei Sonnenuntergang. Diese fortwährende Wiederholung einer und derselben Anrufung muß nach Verlauf einer bestimmten Zeit nervöse Aufregung, geistige Abstumpfung, eine Art Hypnose oder besser eine religiöse Verzückung herbeiführen, in welchem Zustande das eigene Denken und Wollen verschwindet und der gläubige Jünger zu einem blinden Werkzeug in den Händen seines Oberen wird. Und das soll er auch sein, heißt es doch wörtlich in einem Ordensstatut: „Du sollst sein in den Händen Deines Scheichs wie der Leichnam in den Händen der Todtenwäscherin. Gott selbst ist es, der durch sein Wort befiehlt!“ Der Scheich ist der Ordensoberste oder Großmeister. Als solchen kennzeichnet ihn ein gelber Turban, wie ja das Sonnengelb überhaupt im ganzen Morgenlande die Farbe der Erleuchteten, der Weisen ist, daher auch die buddhistischen Priester


  1. Jeder gute Muselmann besitzt seinen Rosenkranz, von dem er sich niemals trennt und dessen Kügelchen – 33, 66 oder 99 an Zahl – er beim Beten und Anrufen seiner Heiligen durch die Finger gleiten läßt.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 662. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_662.jpg&oldid=- (Version vom 5.10.2023)