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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Der junge geniale Forscher kehrte bald (1848) nach Berlin zurück. Als Lehrer der Anatomie an der Kunstakademie und als Assistent am anatomischen Museum ersetzte er dort den einen seiner gleichstrebenden großen Freunde, Brücke, und fand den andern, du Bois-Reymond, noch bei ihrem gemeinsamen Meister Johannes Müller.

Schon im folgenden Jahre wurde Helmholtz als Professor der Physiologie und allgemeinen Pathologie nach Königsberg berufen. Damals hielt man es in den Kreisen der Pathologen und selbst der Physiologen vielfach gering, Experimente anzustellen, und ließ sich lieber durch gewisse allgemeine, dem Denken jener Zeit nach Art von Dogmen feststehenden Sätzen leiten. Helmholtz war stets ein Feind dieser Methode, der sogenannten deduktiven; er betonte, man müsse vom sicheren Boden der Thatsachen ausgehen, deren Gesetze suchen und so, statt von oben nach unten, durch allmähliche Beobachtung von unten her zu immer allgemeineren Schlußfolgerungen aufsteigen. Wie fruchtbar dieser Grundsatz war, das zeigten seine Königsberger Arbeiten, deren erste 1850 den zeitlichen Verlauf der Zuckung animalischer Muskeln maß und die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung in den Nerven bestimmte. Ein Augenblick gilt dem Laien als Bezeichnung unmeßbar kurzer Zeit. Helmholtz wies nach, daß die einfachste Muskelzuckung etwa eine Zehntelsekunde dauert, also mehr wie tausendmal länger als der Blitz. Die mittlere Reizleitungsgeschwindigkeit in den motorischen Nerven des Frosches bestimmte er auf 26,4 Meter in einer Sekunde; diese ist also mindestens zehnmal kleiner als die Geschwindigkeit des Schalles in der Luft und entspricht ungefähr derjenigen eines englischen Expreßeisenbahnzuges.

Hermann von Helmholtz.
Nach einer Photographie von Fritz Leyde u. Co., Hofphotographen in Berlin.

Im nächsten Jahre, 1851, überraschte er die wissenschaftliche Welt durch die Erfindung und „Beschreibung eines Augenspiegels zur Untersuchung der Netzhaut im lebenden Auge“, „eines optischen Instrumentes, durch welches es möglich ist, im lebenden Auge die Netzhaut selbst und die Bilder leuchtender Körper, welche auf ihr entworfen werden, genau zu sehen und zu erkennen.“ Hierdurch hat Helmholtz die Augenheilkunde zu einer wissenschaftlichen Disziplin erhoben und es ermöglicht, daß vielen Tausenden das Augenlicht erhalten werden konnte. Zu dieser Entdeckung hatte ihn treue geduldige Arbeit geführt, die ihr Werk immer wieder prüft und nicht eher abläßt, als bis sie nichts mehr zu bessern weiß. Seine weiteren eingehenden Untersuchungen über das Wesen der Accommodation (d. i. Anpassung der Augenlinse für geringere Sehweiten) sowie der Farbenempfindungen legten einen gesicherten Grund zur Ophthalmologie. Zehn arbeitsvolle Jahre, von 1856 bis 1866, widmete er seinem „Handbuch der physiologischen Optik“. Er hatte es sich dabei „zur Pflicht gemacht, alle wesentlichen Punkte durch eigene Beobachtungen und Versuche zu prüfen, oder zu begründen“. So ist dieses monumentale Werk dem Physiologen wie dem Augenarzt zur ergiebigsten, unentbehrlichen Quelle geworden.

1855 war Helmholtz als Professor der Anatomie und Physiologie nach Bonn übergesiedelt; drei Jahre später bot man ihm den neuen Lehrstuhl für Physiologie in Heidelberg an. Er folgte dem Rufe und entfaltete dort eine neue Seite seines reichen Geistes: er schuf „die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik“. Dieses umfassende Werk ist zu Braunschweig bisher in vier Auflagen erschienen. Es beschäftigt sich vor allem auch mit der Frage, wie das ästhetische Wohlgefallen an gewissen Tonempfindungen entstehe, also mit dem Gesetz der Harmonie in der Musik. Den Grundgedanken seiner Anschauung in dieser Beziehung hat Helmholtz schon in einem Vortrage „Ueber die physiologischen Ursachen der musikalischen Harmonie“ zu Bonn 1857 (Ges. Vorträge Bd. I. S. 103) allgemeinfaßlich dargestellt: Das leibliche Ohr löst die ihm zuströmenden Wellenformen, welche nicht schon ursprünglich, wie die Stimmgabeltöne, einfach sind, in eine Summe von einfachen Wellen auf und empfindet diese einzeln als einfache Töne, mag die Welle ursprünglich so aus der Tonquelle hervorgegangen sein oder sich erst unterwegs zusammengesetzt haben. Die Fähigkeit, diese Aufgabe mit der größten Genauigkeit und Bestimmtheit zu lösen, giebt dem Ohre die mit Hörnerven-Enden ausgestattete geriefte Grundmembran in der sogenannten Ohrschnecke, ein Organ, welches in seinem Bau einer Harfe vergleichbar ist. Wenn ein gemischter Klang das Organ trifft, so gerathen alle diejenigen saitenartigen Membrantheile in Vibration, deren Schwingungszahl übereinstimmt mit den Einzeltönen, aus denen der Klang zusammengesetzt ist, gerade so wie eine Anzahl von Saiten im Klavier (bei gehobener Dämpfung) mitklingt, wenn man einen Vokal hineinsingt. Man hört dann neben dem Grundton dessen Obertöne.

Die Schwingungen von zwei Tönen, deren Höhe nur wenig verschieden ist, verstärken und schwächen sich periodisch; wir hören Schwebungen, Stöße, Knarren, rauhe Dissonanz. Aehnlich, nur schwächer, stören sich benachbarte Obertöne. „Harmonie und Disharmonie scheiden sich dadurch, daß in der ersteren die Töne nebeneinander so gleichmäßig abfließen wie jeder einzelne für sich, während in der Disharmonie Unverträglichkeit stattfindet und die Töne sich gegenseitig in einzelne Stöße zertheilen.“

Helmholtz hat so das verborgene Gesetz aufgedeckt, welches den Wohlklang der harmonischen Tonverbindungen bedingt.

Im Laufe dieser Untersuchungen ergründete er auch die Mechanik der Gehörknöchel (1867 und 1869) und befruchtete die Sprachwissenschaft durch seine Lehre von der Vokalbildung. Er zeigte, daß die Vokalklänge sich von den Klängen der meisten musikalischen Instrumente wesentlich dadurch unterscheiden, daß die Stärke ihrer Obertöne nicht nur von der Ordnungszahl derselben, sondern überwiegend von deren absoluter Tonhöhe abhängt. Die verschiedenen Vokale sind durch verschiedene kräftiger hervortretende Obertöne ausgezeichnet. Der Sprechende ändert die Länge, Weite und Form der Mundhöhle und verstärkt derart die charakterisierenden Obertöne.

Eine Reihe anderer Aufgaben war es noch, an deren Lösung sich Helmholtz in Heidelberg versuchte; er bereicherte besonders die Lehre vom Wesen des menschlichen Erkennens vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus.

Das Jahr 1871 führte ihn auf den Lehrstuhl der Physik an der Universität Berlin und von da an fesselten ihn hauptsächlich Probleme aus den großen Gebieten der Elektricität und der Bewegung von Flüssigkeiten. Dieser letzte Gegenstand hatte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 594. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_594.jpg&oldid=- (Version vom 19.9.2023)