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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Else dies nicht aus seinen Mienen herauslesen. Zudem dauerte ihn das Mädchen, das offenbar unter dem Eindruck litt, dem Doktor gegenüber in ein falsches Licht gerathen zu sein. So ging er bald auf in dem Bestreben, den auf ihrem Gemüth lastenden Schatten durch sein Benehmen wieder zu zerstreuen. Es gelang ihm auch vollständig, und da seine Liebenswürdigkeit von wohlthuender Herzenswärme getragen war, so bildeten sich im Verlauf dieses Abends und des folgenden Tages, mit dessen scheidender Sonne auch er zu scheiden gedachte, die freundschaftlichsten Beziehungen zwischen ihm und der Familie Heydecker.

Der Augenblick der Trennung kam für alle zu schnell. „Ich kann das Abschiednehmen nicht vertragen!“ klagte die Forsträthin, ihr Taschentuch und das Nervenmittel aus der Tasche ziehend. „Es macht mich allemal krank, besonders wenn der Scheidende ein angenehmer Mensch ist.“

Else sprach wenig. Zuletzt schien es, als wollte sich noch ein besonderes, bisher gewaltsam zurückgehaltenes Äbschiedswort auf ihre Lippen drängen, allein es wurde nicht gesprochen, vielleicht, weil sich die gesammte Pensionsgesellschaft um Claudius versammelt hatte. Der Lieutenant geleitete den Scheidenden zur Bahn. Noch in den letzten Stunden hatte er in Erfahrung gebracht, daß Ernst Claudius, dieser „höllisch nette Kerl“, Landwehroffizier bei der Kavallerie, demnach ein „Kamerad“ sei, und so ließ er es sich doppelt angelegen sein, jede Rücksicht zu üben.

„Also es bleibt dabei, unsere Hochzeit machen Sie mit, Doktor!“ sagte er noch im letzten Augenblick vor Abgang des Zuges.

„Es gilt! Und als Gegenleistung erbitte ich mir Ihren und Ihrer Frau Gemahlin Besuch auf der Rückkehr von der Hochzeitsreise – vorausgesetzt, daß Sie die erforderliche Nachsicht gegen alle Unzulänglichkeiten meines Junggesellenheims mitbringen wollen.“

„Alles, was Sie wünschen, wird mitgebracht, Herr Kamerad. Aber wär’ es nicht schöner, Sie selbst würden bis zu unserm Kommen eine liebliche junge Hausfrau nach Hermannsthal führen?“ Der schrille Pfiff der Lokomotive übertönte die Antwort des Doktors. Noch ein Händedruck, ein „Auf Wiedersehen!“, dann setzte sich der Zug in Bewegung.

(Fortsetzung folgt.) 




Kleine Fälschungen.

Wie Geldstücke, während sie von Hand zu Hand gehen, allmählich ihren ursprünglichen Glanz, ihre ursprüngliche Reinheit verlieren, so daß man häufig kaum noch das Gepräge erkennt, so ergeht es auch vielgebrauchten Redewendungen, Citaten, „geflügelten Worten“: sie „haben ihre Schicksale“. So das prosaische Wort, so noch mehr das poetische, weil bei seiner Wandlung nebenbei auch Rhythmus und Geschmack eine besondere Rolle spielen.

Welch berühmter Ausspruch der Toleranz des großen Friedrich: „In meinem Staate kann jeder nach seiner Façon selig werden!“ Aber hat er diesen Ausspruch jemals gethan? Thatsächlich nicht, er hat ihn nur niedergeschrieben in seiner absonderlichen Orthographie und mit etwas abweichendem Wortlaut: „Die Religionen Müsen alle Tolleriret werden und Mus der Fiscal nuhr das Auge darauf haben, das keine der andern abrug Tuhe, den hier mus ein jeder nach seiner Fasson Selich werden.“

Und wer ist der Vater des allgemein bekannten „beschränkten Unterthanenverstandes“? Man sagt wohl, es sei Herr von Rochow, der Minister des Innern unter Friedrich Wilhelm III. von Preußen. Als nach der mannhaften That der „Göttinger Sieben“ (1837) eine Anzahl Elbinger Bürger eine Anerkennungsadresse an die muthigen Männer gerichtet hatte, erhielten sie von Herrn von Rochow den amtlichen Verweis, daß es dem Unterthan nicht gezieme, an die Handlungen des Staatsoberhauptes den Maßstab seiner „beschränkten Einsicht“ anzulegen. Und wenn nun diese beschränkte Einsicht in der Folgezeit zum beschränkten „Unterthanenverstande“ wurde, ist Herr von Rochow immer noch der Schöpfer desselben zu nennen?

Wir kommen zu der großen Anzahl umgewandelter Worte der Poesie. Um ganz zu schweigen von dem allgemein bekannten Schillerschen Mohren, der in der ganzen Welt seine „Schuldigkeit“, bei Schiller dagegen seine „Arbeit“ gethan hat und dann gehen kann – wer kennt sie nicht, „die schönen Tage von Aranjuez“, von denen Domingo Don Carlos gegenüber meint, daß sie nun „vorüber“ seien. Sagt er wirklich wörtlich so? Schiller läßt ihn sagen:

„Die schönen Tage in Aranjuez
Sind nun zu Ende.“

Und „der Knabe Karl fängt an, mir fürchterlich zu werden“, scherzt dieser und jener, obwohl Schiller klar und deutlich geschrieben hat:

 „Der Knabe
Don Karl fängt an, mir fürchterlich zu werden.“

Und weiter, äußert der König Philipp nicht Marquis Posa gegenüber: „Stolz liebe ich den Spanier“? Gewiß nicht, sondern: „Stolz will ich den Spanier“. – Wie das Volk mit Königreichen umspringt! „Ein Königreich für ein Spiel“, sagt der Jünger des edlen Skat und parodiert dabei bekanntlich die Worte Richards III., der nach der verlorenen Schlacht von Bosworth bei Shakespeare verzweifelnd ausruft: „Ein Pferd! ein Pferd! ein Königreich für ein Pferd!“ Ja, so sagen wir; bei Shakespeare aber hat der Ausspruch einen anderen Wortlaut und die Schlegelsche Uebertragung übersetzt sehr richtig dem Urtext nach: „Mein Königreich für’n Pferd.“

Das Dichterwort muß sich eben mancherlei willkürliche Behandlung gefallen lassen, es geht ihm wie dem „feinen Knaben“, zu dem Erlkönig spricht: „Und folgst du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.“ Manch liebes Mal haben wir so gelesen, ehe wir bemerkten, daß Goethe eigentlich doch „Und bist du nicht willig“ geschrieben hat.

Fast noch gewaltsamer ist man mit dem Ausspruch Tassos (II, 1.) umgegangen: „So fühlt man Absicht, und man ist verstimmt“. Wer kennt es nicht, das beliebte: „Man merkt die Absicht und man wird verstimmt“?

Auch falsch lesen kann man mit Beharrlichkeit, Gewohnheit der Auffassung macht das Auge blind. Der Verfasser hatte als „Pennäler“ einen übrigens sehr verehrten Lehrer, der nach fruchtloser Anstrengung, irgend einem der schwachköpfigen Knaben die hohen Lehren der Mathematik beizubringen, ab und zu mit der Entsagung des sterbenden Talbot zu äußern pflegte: Gegen die Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens.“ Was Wunder, daß wir alle, die wir zu seinen Füßen gesessen hatten, noch lange Jahre nachher nicht ahnten, daß er wörtlicher hätte sagen müssen: „Mit der Dummheit“ etc. Und den ebenfalls der „Jungfrau“ entnommenen Spruch: „Den stolzen Sieger stürzt sein eignes Glück“, wer hätte ihn nicht oft genug schon gelesen und gehört als: „Es stürzt den Sieger oft das eigne Glück“? Man ist dabei ebenso umbildend vorgegangen wie mit dem bekannten Worte Max Piccolominis: „Die Uhr schlägt keinem Glücklichen“, das man fast nur gebraucht in der Form: „Dem Glücklichen schlägt keine Stunde“. – Einzelne Aenderungen liegen auch hie und da theils der Auffassung, theils der Zunge besser als der ursprüngliche Ausdruck. So kann man sich kaum wundern, wenn man so oft, ja fast durchgehends Schillers Alpenjäger anführen hört: „Willst du nicht die Lämmlein hüten“, anstatt des in seiner Verallgemeinerung weniger ansprechenden „das Lämmlein“.

„Gegrüßet seid mir, edle Herrn,
Gegrüßt Ihr schönen Damen –“

deklamirt fast jeder Schüler, und wenn ihn der Lehrer nicht verschiedentlich und nachdrücklich auf die Interpunktion des zweiten Verses „Gegrüßt Ihr, schöne Damen!“ aufmerksam macht, so nimmt er den Vers natürlich mit der kleinen Fälschung ins Leben hinüber, um ihn stets zu wiederholen, wie er ihn gelernt hat.

„Von dem Dome, schwer und bang,
Tönt der Glocke Grabgesang –“

Mindestens die Hälfte derjenigen, welche diese Verse der „Glocke“ bei irgend einer Gelegenheit anziehen, wird durchaus keine Rücksicht nehmen auf den thatsächlichen, freilich der gewöhnlichen Sprach- und Denkweise ferner liegenden Wortlaut:

„Von dem Dome, schwer und bang,
Tönt die Glocke Grabgesang.“[1]


  1. Aehnlich: „Laß, Vater, genug sein des grausamen Spiels“ anstatt des wörtlichen „das grausame Spiel“.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 562. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_562.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2023)