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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Speisezimmers und blickte in den Hof hinaus. Der war freundlich erhellt. Geschäftig, leuchtende Laternchen in den Händen, liefen feine Leute hin und her. Jedermann that heute seine Pflicht doppelt schnell, um nachher frei zu sein, jedermann besaß irgend ein Wesen in der Welt, um dessenwillen ihm der Weihnachtsabend zum echten, rechten Herzensfeste wurde! Nur er selbst hatte kein Heim, welches die Liebe zur wirklichen Heimath gemacht hätte, er kam sich verarmt vor inmitten der Behaglichkeit seines von vielen beneideten Junggesellenlebens.

So verstrich die Zeit. Kopfschüttelnd erschien der schöne Amadeus, um die Gaskronen anzuzünden. Er verstand seinen Doktor nicht mehr. Dieses stundenlange unthätige Sitzen im Dunkeln war kein gutes Zeichen. Die Mertens meinte es auch. Sie hatte die Karten zu Rathe gezogen und „Veränderung im Hause“ herausgelesen. „Und die kommt durch eine schwarze Frauensperson, Herr Amadeus, darauf können Sie Gift nehmen!“ Das that der Herr Amadeus nun gerade nicht. Er nahm statt dessen einen Schluck von seines Herrn altem Cognac und begnügte sich damit, der Pique-Dame, welcher die Mertens ihren dicken Zeigefinger auf die Brust gesetzt hatte, einen drohenden Blick zuzuwerfen. Aber die Sache ging ihm im Kopfe herum, zumal als er seinen Doktor jetzt so geistesabwesend am Fenster sitzen und in die Dunkelheit hinausstarren sah!

Nun schlug es fünf auf der Hermannsthaler Fabrikuhr. Und da rollte auch schon der Wagen mit Gerlach zum Hofthor herein. Gleich darauf trat dieser ins Zimmer und brachte eine Fluth frischer, reiner Winterluft mit.

„Grüß’ Gott, Doktor! Ich wollte nicht zögern, mich vom Urlaub zurückzumelden.“

„Brav, lieber Gerlach! Die ‚Kopfwaschung‘ scheint übrigens, nach Ihrer heiteren Miene zu urtheilen, nicht sonderlich schlimm ausgefallen zu sein.“

Der junge Mann warf seinen Ueberrock mit einer gewandten Bewegung ab und trat nun in tadellosem schwarzen Abendanzuge dicht vor den Fabrikherrn. „Schauen Sie mich an!“ sagte er mit Pathos. „So und nicht anders sieht ein Märtyrer der Freundschaft aus!“

„Nicht übel! Und für wen, wenn man fragen darf, hat dieser ‚Salon-Märtyrer‘ geblutet?“

„Für den, der fragt, Verehrtester! Ja, ja – im Ernst. Die Kopfwaschung betraf nämlich meine häufigen Ritte nach Grützburg, von denen Eberhards eine allerliebste Auslegung erhalten haben müssen! Edith eröffnete mir sogleich, daß ganz Kronfurth um meine nahen Beziehungen zu der Grützburger Postmeisterstochter wisse, und fügte wohlwollend hinzu, ich möge mich schämen, wenn mir die Fähigkeit dazu nicht etwa auch abhanden gekommen sei! Mein Schwager nahm die Sache ruhiger, aber selbst er hielt es für nöthig, mir vorzustellen: ich hätte vorsichtiger sein und die Unmöglichkeit einer Verbindung mit jenem Mädchen rechtzeitig bedenken müssen. Jetzt wäre wohl auch ich verdientermaßen zu Worte gekommen, hätte sich nicht das ‚herzige Nellychen‘ gerade diesen entscheidungsvollen Augenblick ausgewählt, um kopfüber in einen vermuthlich zu ganz anderm Zweck bestimmten Eimer voll Seifenwasser hineinzuschießen! Diese eigenartige Festaufführung nahm das erschrockene Elternpaar derart in Anspruch, daß an eine erfolgreiche Vertheidigungsrede meinerseits nicht mehr zu denken war. So benutzte ich denn die allgemeine Verwirrung, um zu entfliehen, in den Wagen zu springen und – hier bin ich!“

Claudius lachte herzlich. „Da haben Sie in der That für mich geblutet, armer Freund. Aber ich werde die Sache sowohl Eberhards als ‚ganz Kronfurth‘ gegenüber bald aufklären, dessen dürfen Sie gewiß sein.“

„Daran liegt mir nichts. Meine völlige Schuldlosigkeit gegenüber der vielleicht sehr verführerischen, leider von mir noch nie gesehenen Postmeisterstochter muß ja schließlich durch das Mädchen selbst an den Tag kommen. Lassen wir also den Dingen ihren Lauf, schon um Ihres kleinen Romans willen.“

„Der ist beendet und – halb vergessen.“ Sie wußten beide, daß das nicht der Wahrheit entsprach, aber jetzt fehlte die Zeit zu weiterem Gedankenaustausche. Die Stunde der Leutebescherung war da. Fröhlich ging die Feier heute wie allemal von statten, beschlossen durch einen vom Kronfurther Pfarrvicar gespielten Choral, in welchen groß und klein voll andächtiger Freudigkeit einstimmte.

Der schöne Amadeus und die Mertens erhielten ihre Gaben besonders und zogen sich dann sehr vergnügt in die punschdurchdufteten unteren Regionen der Drachenburg zurück.

„Nun sind wir frei,“ sagte Claudius, als er schließlich mit Gerlach in dem großen Bescherungssaal allein zurückgeblieben war. „Aber ich will Sie den Geschwistern nicht ungebührlich lange entziehen. Meine kleinen Freundschaftsgaben wird Ihnen Frau Edith in Kronfurth bescheren.“

„Sie beschämen mich, Doktor! Besonderer Gaben bedarf es wahrlich nicht, wo Ihr Vertrauen, Ihre Zuneigung mich täglich aufs neue so reich machen! Aus eigenem Können weiß ich nichts auch nur annähernd Gleichwerthiges dafür zu bieten. Doch hier“ – er zog einen Brief aus der Brusttasche seines Rockes und legte ihn unter den Tannenbaum, neben welchem sie standen – „hier ist eine kleine Festgabe, die Ihnen vielleicht Freude bringt. Ich fuhr nach dem Kronfurther Verhör noch schnell zur Grützburger Post hinüber. Eine Ahnung sagte mir, der vierundzwanzigste Dezember werde Ihnen ein Gedenkzeichen von Nummer fünf bringen!“

„Gerlach!“

„Lesen Sie den Brief nur erst, bester Freund! Vielleicht ist er recht stachlig, so stachlig wie die beiden andern, und dann werden Sie mir kaum noch Dank dafür wissen … Indessen gehe ich, mich zu meiner Fahrt nach Kronfurth zu rüsten.“

Kaum war Claudius in der Stille des Aristoteleszimmers allein, so öffnete er den Brief. Nummer fünf befleißigte sich auch diesmal der gewohnten Kürze, aber sie hatte ein offenbar vom eigenen Weihnachtsbaum gebrochenes, frischduftendes Tannenreis beigefügt. – „Noch einmal schreibe ich Ihnen, mein Herr! Das letzte Mal. Allein ich muß Ihnen sagen, wie leid es mir thut, Sie verkannt zu haben. Ja, verkannt! Ihr Inserat machte mir einen gesuchten, gekünstelten, mit einem Wort einen unwahren Eindruck. Nur die höchste Anmaßung und Verschrobenheit oder ein schlechter, sehr schlechter Scherz konnten nach meiner ersten Empfindung der Sache zugrunde liegen. Ich weiß nun, daß ich irrte, und bitte Sie, mir zu vergeben. Etwas möchte ich Ihnen außerdem sagen, etwas aufrichtig Gutgemeintes: stellen Sie sich den Frauen gegenüber auf einen neuen, einen richtigeren Standpunkt! Dann werden Sie auch – ich prophezeie es Ihnen – eines Tages jene ‚gleichgestimmte Seele‘ finden.“

„Du selbst bist es – die gleichgestimmte Seele!“ murmelte Claudius, und seine Hand schloß sich fester um das Tannenreis. Dann las er weiter: „Glauben Sie mir, Herr Freimuth, die Ihnen so verhaßte moderne Mädchenerziehung ist bei weitem nicht das, was Sie aus der Vogelschau in ihr erblicken. Geschraubtheit und Unnatur hat es immer gegeben, sie sind keine ausschließlichen Eigenschaften unserer Zeit. Auch die Mode, gegen welche Ihr Inserat gleichfalls einen kleinen Ausfall macht, brachte immer neben Gutem und Nützlichem Unschönes und Verkehrtes – und immer ließen sich hier und da selbst vernünftige Frauen durch Beispiel und Gewohnheit zu kleinen Geschmacksverirrungen verleiten, ohne dadurch ihres innern Werthes verlustig zu gehen. Und nicht selten ist die äußere Erscheinung das Ergebniß zwingender, namentlich materieller Lebensumstände, sodaß sich in geschmackloser oder gar lächerlicher Hülle eine köstliche Perle bergen kann. Damit ist nicht gesagt, daß Herr Freimuth aus Grützburg fortan jeder Vogelscheuche nachlaufen und sie auf ihren inneren Werth hin prüfen soll; aber gut acht haben, nicht von oben herab vorschnell verurtheilen, was er nicht kennt, und vor allem das Schöne und Gute seiner Zeit nicht über nutzlosen Träumen übersehen und versäumen – das soll er!

Lachen Sie nicht über diese Sittenpredigt! Ich habe gerade darüber viel nachgedacht. Mein Leben gleicht in seinen äußeren Umrissen einigermaßen dem Ihren. Auch ich wuchs weltfremd empor in eigenartiger geistiger Luft, durch die Verhältnisse vom rechten, echten ‚Jungsein‘ zurückgehalten, und finde nun den Weg in die Welt der Andern nicht mehr, ohne aber deshalb diese Welt zu verkennen oder gering zu achten. Ein Bekenntniß für das andere, Herr Freimuth! Sehen Sie in dem meinigen ein Zeichen der Achtung!

Und zuguterletzt: dieses Zweiglein soll Ihnen: ‚Fröhliche Weihnachten!‘ wünschen und fürs kommende Jahr ein reiches, echtes Glück!

Antworten Sie mir nicht, denn weitere Zuschriften würden nicht in meine Hände gelangen. Gott mit Ihnen!
Die ‚Kamerunerin‘.“ 

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 543. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_543.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2023)