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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

und um Nachtherberge in der Braustube. Das viele und wegen des Wetters laute Sprechen hatte mich müde gemacht, ich schlief bis in den hellen Tag hinein.“

„Wie lange?“

„Bis sieben,“ versetzte Strobel kleinlaut. „Der Hausknecht vergaß, mich zu wecken. Ueber glatte Steine und Windbruch arbeitete ich mich mühsam den Schloßberg herauf. Daß ich am Lugaus die Thür offen fand, machte mich nicht lange unruhig; die Frau Baronin oder Fräulein Verena konnte im Garten gewesen sein. Da komme ich in den Hof und lasse die Augen umhergehen. Teufel! Die Thür zum Amtsgericht ist ja sperrangelweit auf! Sollte der neue Herr Amtsrichter schon droben sein? Ich laufe Sturm, und da sehe ich die Bescherung. Alle Kasten und Schubladen erbrochen, die Schriften – Herr Amtsrichter, ich bitte“ – er zeigte auf den Wirrwarr ringsum.

„Und von dem Thäter entdeckten Sie keine Spur?“

„Nein, er hat nicht auf mich gewartet, Herr Amtsrichter. Allein meine unmaßgebliche Meinung ist, daß er sich über den Lugaus davon gemacht hat, dem Schloßkeller zu.“

„Ist der ‚Pfannen-Gide‘ mit den Oertlichkeiten des Schloßkellers vertraut?“

„Wie mit dem Rabenbier!“

„Glauben Sie, daß ihn die Hunde kennen?“

„Er kennt alle Hunde. Bürgermeister Zappel drohte ihm einmal beim Betteln mit seinem Sultan. Da zieht der Lumpazi eine Zehnguldennote aus der Tasche und sagt: ‚Ich wette einen Zehner, Ihr Sultan thut mir nichts.‘“

„Ein frecher Mensch!“ knurrte der Amtsschreiber, aber es klang wie höchste Bewunderung.

„Es ist klar,“ rief Tannhauser, „der Einbrecher entwischte über den Steig durch den Schloßkeller. Aber warum mit der Kasse? Doch vielleicht ließ ihm das Wetter keine Muße zum Oeffnen, irgendwelche Umstände verhinderten ihn an der Ueberfahrt, und als er endlich heute früh dazu kam, die Kasse aufzusprengen, wurde er von dem Lieutenant überrascht. So war der Verlauf. Was meinen Sie, Herr Kollege?“

„Ich werde die Werthe unter allen Umständen ersetzen.“

„Dazu sind Sie nicht verpflichtet. Uebrigens erlangen wir heute noch das Gestohlene. Das Hochwasser treibt den Flüchtling den Gendarmen in die Arme. Stellen Sie sich die Auen im gegenwärtigen Zustande vor. Er kann dort nicht bleiben, und geht er heraus, so haben wir ihn.“

„Wie dem auch sei,“ sagte Vitus ungeduldig und schlug mit der Hand aufs Knie, „ich komme für den Schaden auf!“

„Halten Sie das, wie Sie wollen! Ich würde es nicht thun. Auch ist der Schadenersatz Ihrerseits kaum zulässig.“

„Oho!“

„Nicht zulässig! Indessen, mich und meine Zeit nimmt die Pflicht in Anspruch. Mit Ihrer werthen Erlaubniß werde ich nun Ihre verehrliche Familie und das Gesinde vernehmen.“

Vitus zitterte vor diesem Verhör, aber er fühlte doch eine gewisse Erleichterung, als er bemerkte, daß Tannhauser nicht mehr der Schneidige von heute nacht war. Der neue Amtsrichter spürte jetzt die Anstrengungen, die hinter ihm lagen; bald war ihm heiß, bald kalt, und alle Zähne thaten ihm weh.

Beim Eintritt Idas erhob ihr Gatte zum ersten Male die Augen. Obwohl er die Brille abgenommen hatte, blickte er fest und stet und zwang Ida, ihn anzusehen; so lange sie sprach, ruhten ihre Blicke ineinander.

Die Richterin gab der Wahrheit gemäß zu Protokoll, daß sie den ganzen Abend zu Hause gewesen sei, bis gegen Morgen gewacht, aber nur Wind und Wetter gehört habe. Allerdings habe es geklungen, als fegten tausend Hexen durch die Gänge, allein so sei es bei jedem Sturm.

Verenas Aussage lautete ähnlich. Sie sei erst am Morgen durch die Mägde von dem Einbruch verständigt worden, und Strobel habe vorhin noch hinzugefügt, daß ihr Verlobter den Dieb unterwegs überrascht hätte. Helmuth sei doch hoffentlich ohne Unfall weggekommen?

„Ihr Bräutigam ist heil und gesund!“ erwiderte Tannhauser, trotz aller Hoheit unter dem Zauber der schönen Augen. „Er läßt die Baronesse grüßen und wird bald drüben sein. weshalb ich die Damen nicht länger stören will.“ –

Die Köchin faßte die Frage, ob sie zuweilen nach Thorschluß noch ausgehe, als Beleidigung auf. Sie gehe überhaupt außer auf den Markt und zur Kirche niemals aus.

„Niemals?“ fragte Tannhauser spöttisch. „Und doch wurden Sie am Pfingstsonntag nach elf Uhr mit einem jungen Mann im Schloßkeller gesehen!“

Diese Allwissenheit mußte auch die Unschuld verwirren. „Das war mein Vetter, der Schullehrer von Jöching,“ gestand sie verschämt, „und die Gnädige –“

„Wie war’s gestern?“

Gestern war sie beim Ausbruch des Gewitters schon zu Bett. Sie sprach laut ein Gebet nach dem andern und entschlief glücklich, etwa während des vierten. Täglich um sechs Uhr klopft Strobel an ihre Thür, bis sie aufwacht. Heute klopfte er nicht und so habe sie „richtig“ die Zeit verschlafen.

Tannhauser sah die brave Köchin mit einem Blicke an, als wenn er mit Ueberwindung tausend Zweifel an ihrer außerordentlichen Biederkeit in seinen Busen zurückdränge, und entließ sie. Die Kleine mit der großen Schürze, die ihrer Küchengebieterin folgte, wußte vollends nichts auszusagen. Aengstlich stammelte sie, daß sie vor Gewittern große Furcht hege und sich deshalb nach dem Schlafengehen beide Ohren mit den Kissen zugehalten habe. So sei es ihr unmöglich gewesen, etwas zu vernehmen, und bald müsse sie nicht mehr gewacht haben. Es habe ihr dann allerdings viel Merkwürdiges geträumt, erst von einem Festessen, das die Frau Baronin ganz allein gekocht habe, nachher von –“

„Schon gut!“ unterbrach sie Tannhauser ungeduldig. „Du kannst gehen, wir wissen genug.“

Da zunächst weitere Anhaltspunkte in der Sache nicht zu gewinnen waren, ersuchte der neue Amtsrichter seinen Vorgänger um Uebergabe der Bücher. Vitus kam stillschweigend der Aufforderung nach. Alles mar in guter Ordnung. Aus dem Vorzimmer hörte man unterdessen ein Aus und Ein, ein Räuspern und Wispern: Parteien warteten, Rechtsanwalt und Notar erschienen. Die laufenden Geschäfte nahmen beide Richter vollauf in Anspruch, es war Mittag, ehe sie sich dessen versahen. Tannhauser beantragte den Schluß der Verhandlungen.

„Ich werde heute noch Herrn Haspinger schreiben,“ sprach er, „daß er den Antritt seiner neuen Stellung beschleunigt. Mir ahnt eine schwere Krankheit, Nervenfieber und so weiter. Ich habe mich heute nacht in diesem Unwetter verdorben, in meinen Zähnen tobt’s wie in einem Vulkan.“

Strobel brachte ihm Hut und Stock; Tannhauser holte die schwarzseidene Binde aus der Tasche und legte sie wehmüthig um.

„Strobel!“

„Herr Amtsrichter?“

„Ich habe einen Auftrag für Sie, warten Sie unten! – Was ich noch sagen wollte, Herr Kollege. machen wir die Nummern der Werthpapiere erst heute abend bekannt! Eine Gefahr, daß der Flüchtling die Scheine an den Mann bringt, besteht nicht, im Gegentheil ist seine Festnahme sicher. Zu weit westlich verschlagen, hat er die Ueberfahrt bei Nacht verpaßt, und wer jetzt über den Fluß wollte, der hätte hüben und drüben Zuschauer. Der Gauner muß also auf unserer Uferseite bleiben, und da sind ihm die Gendarmen sicher schon auf den Fersen. Warten wir also! Wenn wir die Werthe ohne Ausschreiben wiederbekommen, steht die Klugheit der Justiz in ihrer ganzen Größe vor den Leuten. Deshalb meine ich, wir unterlassen vorläuflg die Bekanntmachung.“

„Wie Sie meinen, jedenfalls fühle ich mich zum Ersatz verpflichtet, wenn die gestohlene Summe nicht mehr beigebracht werden kann.“

„Zum Ersatz verpflichtet? Das sind Sie nicht, wie ich schon mehrmals Ihnen erklären mußte. Weshalb in aller Welt halten Sie so hartnäckig an diesem Gedanken fest? Wollen Sie dem Staate für die Nichtbeachtung Ihrer berechtigten Beschwerden eine Schenkung machen? Da werden Sie schön ankommen! Man dürfte oben ein solches Anerbieten unverständlich oder, wenn man nach einem Verständniß sucht, verdächtig finden.“

„Was wollen Sie damit sagen?“ fuhr Vitus in jäher Gluth auf, sodaß Tannhauser rasch einen Schritt zurücktrat.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 534. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_534.jpg&oldid=- (Version vom 6.8.2023)