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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

heimgegangen war, und verleitete mich zu jener großen Thorheit, deren ich mich heute, bei klaren Sinnen, so gründlich als möglich schäme! Alles weitere sagt Ihnen das Zeitungsblatt, das Sie mitgenommen haben.“

„Hier!“

Claudius wies auf eine im Anzeigentheil der Zeitung befindliche Stelle. „Lesen Sie!“

Gerlach las: „Ein alleinstehender Mann in gesicherter Lebenslage, den besondere persönliche Verhältnisse sowie ein starker Widerwille gegen die heutige Mädchenerziehung bisher vom geselligen Verkehr in Damenkreisen zurückgehalten haben und der gegenwärtig nicht mehr geneigt ist, das Versäumte auf dem herkömmlichen Wege nachzuholen, wünscht mit einem Mädchen von gediegener Erziehung und schlichtem häuslichen Sinne in brieflichen Verkehr zu treten. Sollte dieser Aufruf in die rechten Hände, das heißt in diejenigen eines weiblichen Wesens gelangen, welches weder Herrenhut noch Stockschirm trägt, Freude am eigenen Heim und Sinn für ein harmonisches Stillleben besitzt, welches ein gutes Buch einer seichten Unterhaltung und anregenden Geistesverkehr anspruchsvollen, geselligen Vergnügungen außerhalb des Hauses vorzieht – so möge man unter ‚Freimuth, postlagernd Grützburg‘ ihn erwidern.“

Claudius, welcher den Lesenden scharf beobachtete, nahm sehr wohl das verrätherische Zucken in dessen Mundwinkeln wahr. „Platzen Sie nur heraus, Gerlach. thun Sie sich keinen Zwang an!“ sagte er gutmüthig. „Ich erwarte und verdiene nichts anderes, als tüchtig ausgelacht zu werden.“

Jetzt blickte Gerlach rasch auf. „Aber ich denke nicht daran, Sie auszulachen, Doktor! Was eben meine Heiterkeit erregte, ist nur der Gedanke, wie wir Menschen uns unter einander anzuführen, oder, wenn Ihnen das besser gefällt, in einander zu irren vermögen! Wer würde in Doktor Ernst Claudius, dem Vertreter des gesunden Wirklichkeitssinnes, dem Musterbilde eines Groß-Industriellen, den Verfasser dieser merkwürdigen schriftstellerischen Leistung vermuthen?“

„Spotten Sie immerhin, mein Freund, aber bedenken Sie auch, was ich Ihnen sagte: die Anfrage ward in einer Art Trunkenheit – anders kann ich den Zustand wirklich nicht bezeichnen – von mir niedergeschrieben. Nachdem sie noch in derselben Morgenfrühe abgegangen und der Tag mit seinen Berufspflichten wieder in seine Rechte getreten war, kam ich schnell genug zum Bewußtsein meiner Narrheit und schämte und ärgerte mich so gründlich als möglich!“

„So haben Sie das Gesuch in der That vollkommen ernsthaft gemeint?“

„Während ich es schrieb, vollkommen. Erschien es mir doch in jenen verzauberten Nachtstunden fast als gewiß, daß sie, die ‚Rechte‘, meinen Ruf vernehmen und wie etwas längst Erwartetes aus der Tiefe ihres Herzens beantworten werde!“

„Nun, was das anbetrifft, einige Beantwortungen wird der ‚Aufruf‘ sicherlich finden.“

„Vielleicht! Aber keinesfalls befindet sich ein Mädchen unter den Schreiberinnen, wie ich es schilderte. Ein solches würde – heute, mit klaren Sinnen, weiß ich das recht wohl! – sich niemals dazu verstehen, auf dem Zeitungswege Bekanntschaften anzuknüpfen. Uebrigens hab’ ich jenen Traum von Zukunftsglück gleich vielem anderen sachte ins Grab versenkt. Und jetzt – füllen Sie unsere Gläser, Gerlach! – jetzt soll die ganze Angelegenheit abgethan und vergessen sein!“

Das erscheint mir durchaus nicht als das Richtige. Wir Männer sollten unter allen Umständen den Muth haben, einmal Begonnenes auch, so oder so, zu Ende zu führen! Eberhard sagte mir einmal, Sie seien in Ihren Jünglingsjahren ‚unnatürlich vernünftig‘ gewesen und es brause noch ein gutes Theil unverbrauchter Jugendlust in Ihnen. Wohlan! Erklären wir uns so jene ‚Trunkenheit wie von süßem Most‘ und behandeln wir Ihren Einfall, wie er es verdient: als guten Scherz. Ich selbst werde, sofern Sie mich dazu ermächtigen, die unter ‚Freimuth‘ eingelaufenen Briefe von der Grützburger Post abholen."

„Thun Sie, was Ihnen gefällt, Gerlach, nur lassen Sie mich aus dem Spiel! Es ist übrigens nicht wahrscheinlich, daß sich Ihr anderthalbstündiger Ritt nach Grützburg in irgend einer Hinsicht lohnen wird.“

„Mag sein; allein ich habe nun einmal zu der Sache Stellung genommen, und Sie, Doktor, müssen mit mir durch dick und dünn! So verlangt es die Gerechtigkeit.“




3.0 Folgen einer Thorheit.

Der nächste Tag brachte beiden Männern viel Arbeit durch wichtige, vortheilhafte Geschäftsabschlüsse.

„Das war ein gesegneter Tag,“ sagte Gerlach, als sie beim Abendessen zusammentrafen – „und wenn Sie mir nachher noch eine kurze Unterredung im Aristotelestempel gewähren wollten, so wäre ich in der Lage, ihm einen würdigen Abschluß zu geben.“

„Ich traue Ihnen nicht ganz, Gerlach! Sie waren doch nicht etwa in Grützburg?“

„Zu dienen. Und mein Pflichteifer ward glänzend belohnt. Unsere Ernte besteht in vier, sage vier jungfräulichen Episteln, an deren Eröffnung wir gehen können, sobald Sie sich in die erforderliche weihevolle Stimmung versetzt haben werden.“

„So kommen Sie, Erbarmungsloser! Ich sehe schon, daß mir nichts geschenkt werden soll, und will die Früchte meines Handelns mit Würde verzehren.“

Da lagen nun die vier unschuldigen Brieflein auf der mit grünem Tuch ausgeschlagenen Tischplatte. „Welchen zuerst?“ fragte der junge Direktor mit lustig blitzenden Augen.

„Jenen mit den kühn geschwungenen Schriftzügen, wenn es denn sein muß! Lesen Sie vor!“

  "Hochzuverehrender Herr!

‚Es gießt keinen Zufall,‘ sagt schon Schiller – ‚und was uns blindes Ungefähr nur dünkt, gerade das steigt aus den tiefsten Quellen!‘ Daran mußte ich denken, als mir gestern einer meiner Zöglinge eine zusammengeballte Zeitung ins Gesicht schleuderte und ich, aus gewohnter Ordnungsliebe sie wieder glättend, Ihre Anfrage darin fand. Mein Herr! Ich begrüße Sie als das Ideal, nach welchem meine Seele ein langes Leben hindurch vergeblich geseufzt hat! Wenn ich sage, ein ‚langes‘ Leben, so dürfen Sie daraus keine Schlüsse auf mein Alter ziehen. Ich befinde mich in den besten Jahren. Aber ein Leben der Knechtschaft muß dem zur Freiheit geborenen Geiste immer lang erscheinen. ‚Das Leben ist sonnenlose Nacht, wenn nicht die Freiheit drüber lacht!‘ sagt im ‚Pharus‘ ein gewisser Duller, von dem ich sonst nichts weiß. Mein Herr! Ich bin Lehrerin. Das sagt Ihnen genug. Ich bin arm an schnödem Mammon, aber reich an Geist und Gemüth und allen weiblichen Tugenden, in deren wichtigster, der Geduld, ich mich dank meinen Zöglingen täglich mehr vervollkommne. ‚Dulde, mein Freund! Geduld ist die schönste Zierde der Edlen!‘ sagt Herder, wie Ihnen bekannt sein dürfte … Ich spreche und lese sieben Sprachen, weiß die Klassiker aller nennenswerthen Litteraturen beinahe auswendig und habe in meinen Mußestunden zwei Bände Poesien, ‚Trübsalstropfen‘, verfaßt, deren Erscheinen nur das eine im Wege steht, daß ich noch keinen Verleger fand. Wenn sich ein Briefwechsel zwischen uns entspinnen sollte, so werden Sie finden, daß derselbe nicht nur unterhaltend, sondern auch bildend und belehrend für Sie sein wird.“

Hier ward der Vorleser durch ein heiteres Lachen des Fabrikherrn unterbrochen und er stimmte sogleich mit ein.

„Bravo, Doktor! Das ist Ihnen herzlich gesund,“ rief er. „Sehen Sie nun, wie recht ich hatte, die heilkräftigen Papyrusrollen nicht selbstsüchtig für mich zu behalten?“

„Sie sind ein trefflicher Bursche, Gerlach. Weiter!“

– – „sondern auch bildend und belehrend für Sie sein wird. Ihre Ansichten über die heutige Mädchenerziehung stimmen wahrscheinlich mit den meinigen überein. Ich finde, daß alle modernen Vergnügungen, besonders das Tanzen und die Gesellschaftsspiele, geradezu entsittlichend auf das weibliche Geschlecht wirken! Meine selige Mutter, eine Tochter des bekannten Pädagogen Wacker, ließ uns Mädchen an dergleichen niemals theilnehmen. Wenn Vater männlichen Besuch erhielt, nahm uns Mutter bei der Hand und führte uns hinter das Haus. Mit achtzehn Jahren hatte ich noch kaum mit einem Manne, Vater und Lehrer ausgenommen, ein Wort gewechselt. Ja, mein Herr! So wurden wir erzogen! Und nun stehe ich schutzlos in dieser Welt, welche inzwischen noch viel verderbter geworden ist.

Die Pünktlichkeit, meine zweite Grundtugend, zwingt mich, diesen Brief zu schließen. In fünf Minuten beginnt der Unterricht.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 530. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_530.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2023)