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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Handwerkern. Hier findet man noch ganze Straßenzüge mit ärmlichen, verwahrlosten Hütten, von denen ein Wiener Gassenhauer singt:

„Wo d’ Fenster san verschmiert mit Lahm,
Is Unserans daham.“

Der Donaukanal bildet die Grenze zwischen den Bezirken Landstraße und Leopoldstadt. Er bietet, insbesondere von der mächtig wirkenden Aspernbrücke aus betrachtet, ein sehr belebtes Bild mit fesselnder Umrahmung. Links dehnt sich die stolze Häuserzeile des Franz Josefs-Quais, dann die innere Stadt mit ihren Thürmen und alterthümlichen Bauten, im Hintergrunde das Kahlengebirge. Zahlreiche Lokaldampfer vermitteln insbesondere an Renntagen den Verkehr mit dem Prater und weiter aufwärts mit Nußdorf, Klosterneuburg und Greifenstein. Rechts begrenzen die Häuserreihen der Leopoldstadt das Bild. An den Uferböschungen bietet sich ein ländlich behaglicher Anblick des Müßiggangs und der Beschaulichkeit. Geduldige Angler sitzen stundenlang unbeweglich, um immer wieder die Erfahrung zu machen, daß die Fische durch den Dampfschiffverkehr äußerst rar geworden sind. Arbeitsscheue Bursche, die der Wiener „Pülcher“ nennt, liegen ausgestreckt im Grase und lassen sich die Sonne auf den knurrenden Magen scheinen. Im Sommer gesellt sich noch eine eigenthümliche Berufsklasse dazu, die „Pudelscherer“, welche ihre Opfer zwischen den Knieen halten und sie behutsam mit der Schere von ihrem lästigen Vließ befreien.

Der Bezirk Leopoldstadt, ehemals der Sitz der Kaufmannschaft, hat durch deren theilweise Uebersiedlung auf den Franz Josefs-Quai viel von seiner ehemaligen Bedeutung eingebüßt. Dies und der Umstand, daß an die Leopoldstadt keine bevölkerten Vororte stoßen, ist die Ursache, daß Unternehmungen wie das Karltheater und die großen, ehemals sehr besuchten Gasthöfe mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Die Nordbahn und Nordwestbahn, welche in diesem Bezirke münden, bringen allerdings einen bedeutenden Fremdenzufluß; aber der Verkehr aus Ungarn, welchen früher die Nordbahn ausschließlich vermittelte, ist durch die Staatsbahnlinie zum großen Theile auf den Bezirk Wieden abgelenkt worden. Man hofft indessen von der neu errichteten Fruchtbörse einigermaßen einen Ersatz für die erwachsenen Schäden.

Die Hauptverkehrsader der Leopoldstadt, die Praterstraße, ist von den erwähnten Nachtheilen am wenigsten betroffen worden. Sie verdankt dies dem ausgedehnten Verkehr, welcher sich dort an schönen Sommertagen nach dem Prater, dem großartigsten und beliebtesten Vergnügungsorte des Wieners, entwickelt. An Sonntagnachmittagen bilden die ungeheuren sich überall stauenden Menschenmassen, die ununterbrochene Wagenreihe, der riesige Straßenbahnverkehr zwischen der Aspernbrücke und dem Tegetthoff-Denkmal einen wahrhaft weltstädtischen Anblick. Die Leopoldstadt besitzt außerdem einen zweiten Park, den Augarten, welcher noch bis zu Anfang dieses Jahrhunderts das Stelldichein der vornehmen Welt gebildet hat. Hier hielt Wolfgang Amadeus Mozart seine berühmten Morgenkonzerte ab, welche dann von anderen bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts fortgesetzt wurden. Allein gegenwärtig ist der schöne Park vereinsamt, und nur die zahlreichen Nachtigallen setzen zu ihrem Privatvergnügen die stolzen Ueberlieferungen dieses von den Klängen Mozartscher Melodien geweihten Naturtempels fort.

Eine ähnliche musikalische Erinnerung knüpft sich an das Gasthaus „zum wällischen Bauer“ in der Praterstraße, das unter anderem Namen heute noch besteht. Auf seinem ziemlich geräumigen Vorplatze haben Strauß und Lanner mit den beiden Brüdern Drahanek ihre ersten musikalischen Lorbeeren gepflückt. Hier saßen sie auf einer schmucklosen Tribüne, fiedelten ihre Weisen, welche später die Welt eroberten, und Johann Strauß, der ältere, damals ein Jüngling von 17 Jahren, ging nach den Stücken mit dem Teller von Tisch zu Tisch zum Einsammeln. Einige Jahrzehnte später spielte er am Hofe Louis Philipps, umjubelt und gefeiert von der ganzen französischen Gesellschaft.

Am rechten Ufer der neueingedämmten Donau sind die Häuserparzellen der in Aussicht genommenen Donaustadt abgesteckt, von der man hoffte, daß sie sich in kurzem zu einem Fabriks- und Handelsmittelpunkt entwickeln werde. Die hochgespannten Erwartungen sind aber nicht in Erfüllung gegangen. Still und einsam wie ein modernes Dornröschen liegen die Ufer des mächtigen Stromes, in tiefem Schlafe liegen die kühnen Entwürfe da und harren des Ritters, der sie dereinst wecken wird zu schönerem Leben.

Auch der Bezirk Alsergrund hat durch die Stadterweiterung eine gründliche Umwandlung erfahren; Thuri und Liechtenthal, diese urwüchsigsten unter den „enteren Gründen“, sind mit ihren niederen Häusern und engen Gäßchen stark zurückgetreten und haben stattlichen Straßenzügen Platz gemacht. Das Häuserviertel hinter dem Schottenring, der herrliche Votivkirchenplatz, die belebte Nußdorfer- und Währingerstraße, der Liechtensteinpark machen diesen Stadtteil zu einem bevorzugten Wohnort der wohlhabenderen Klassen. Ein ungeheures Gebiet von der Ausdehnung eines ganzen Stadtteils dient hier den öffentlichen Wohlthätigkeitsanstalten. Fast unmittelbar neben einander liegen: das allgemeine Krankenhaus, die Gebäranstalt, das Garnisonsspital, die Bürger- und Armenversorgungsanstalten und die niederösterreichische Irrenanstalt; letztere ein stattliches, nach den heutigen Anforderungen eingerichtetes Gebäude mit einem großen prachtvollen Garten. An den Kliniken des allgemeinen Krankenhauses, sowie in den Lehrsälen wirken Männer von europäischem Rufe zum Heile der leidenden Menschheit.

Die Bezirke Josefstadt und Neubau gehören zu den ältesten Wohnsitzen des bürgerlichen Mittelstandes und der mannigfachsten Fabrikationszweige. Hier hat sich noch zum großen Theile das Bild des vorstädtischen Lebens erhalten. Die engen Gäßchen um die ehemaligen Vorstädte St. Ulrich, Neustift und Spittelberg haben noch ganz das Gepräge der vormärzlichen Zeit. In andere Theile des Bezirkes hat freilich die Baulust schon Bresche gelegt und Licht und neues Leben in die steinernen Zeugen ehemaliger Enge gebracht. Von öffentlichen Gebäuden in der Josefstadt müssen erwähnt werden das massive festungsartige Gebäude des Landesgerichts mit geböschten Mauern und vergitterten Fenstern, die Hochschule für Bodenkultur, das Gebäude der geographischen Gesellschaft, das Palais Auersperg und die umfangreiche Reiterkaserne.

Unmittelbar anschließend an die westlichen und südlichen Bezirke dehnen sich die reichbevölkerten Vororte Döbling, Währing, Hernals, Ottakring, Neulerchenfeld, Fünfhaus, Sechshaus, Rudolfsheim, Gaudenzdorf, Meidling aus. Sie waren bisher durch den Linienwall vom übrigen Stadtgebiete getrennt und galten noch als Landgemeinden, hatten aber schon den Umfang großer Städte von nahezu 100 000 Einwohnern. Wegen der billigeren Lebensverhältnisse wurden sie nicht nur von der Arbeiterbevölkerung, sondern auch von der Beamtenschaft gerne zum Wohnsitze gewählt. Der Verbrauch in den Vororten war ein ungeheurer, da die Lebensmittel durch den Wegfall der Verzehrsteuer sich beträchtlich billiger stellten als im Stadtgebiete. Die ärmere Bevölkerung und der Mittelstand suchten daher gerne die Wirthschaften der Vororte auf, wo sie mit Kind und Kegel um ein bedeutendes billiger leben konnten. In Neulerchenfeld, Hernals, Währing, Weinhaus, Nußdorf, Grinzing, Sievering stehen zahlreiche große und kleine Wirthschaften, wo sich das Volk bei einem guten Tropfen und beim Klang der Fiedel oder den Späßen der Volkssänger gütlich thut. Der „Heurige“ (junge Wein) bringt das leicht erregbare Blut des Wieners schnell in Wallung und erzeugt jene Stimmung, welche die Sorgen des Tages auslöscht und das Leben in rosigem Lichte zeigt. Der Wiener wird in dieser Stimmung nicht nur nachsichtig gegen sich selbst, sondern gesprächig und gemüthsweich, so daß er die ganze Welt umarmen möchte. Trotz der schweren Köpfe kommt es nur selten zu groben Ausschreitungen; jeder Mißton wird mit einem Witz hinweggescherzt. In solchen Augenblicken hört die Welt auf, für den Wiener ein Jammterthal zu sein.

„I bin jetzt in Himmel,
Da braucht ma ka G’wand,“

jauchzt der leichtsinnige Arbeiter, der seinen ganzen Wochenlohn verjubelt und auch den Rock dem Wirthe läßt, um mit dem Erlöse seine Zechgenossen freizuhalten.

Letzteres bildet übrigens glücklicherweise nur eine Ausnahme. Die große Mehrzahl geht nicht soweit in ihrer Lustigkeit, sondern begnügt sich, wie eine große Familie in fröhlichem Geplauder beisammen zu sitzen und, nachdem bei den ersten Gläsern über den Gemeinderath, die Straßenbahn, Wasserleitung, Gasbeleuchtung, über das städtische Pflaster und den Miethzins, über die Schulen und die unerschwinglichen Steuern weidlich losgezogen wurde, bei

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 510. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_510.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2023)