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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Zinspaläste der Ringstraße und des Stadterweiterungsgrundes haben sich unmittelbar an die Vorstädte angeschmiegt, und dadurch ist auch in den Straßen und Plätzen der Vororte die Baulust rege geworden. Viele alte Gebäude mußten den Forderungen des Verkehrs weichen; an die Stelle von großen, weitläufigen Gebäuden mit ungeheuren Höfen traten ganze Straßenzüge mit modernen Häuserfronten; in kurzen Zwischenräumen erscheint heute noch in den Zeitungen die Nachricht, daß ‚wieder ein Stück Alt-Wien‘ der großen Umwandlung zum Opfer gebracht worden ist, und dann erfährt man aus dem ‚Nachruf‘ die denkwürdigsten Geschichten aus dem Leben dieses ‚steinernen Organismus‘.“

Nachdem Herr Hainfelder seinen Gast genügend vorbereitet glaubte, trat er mit ihm den Rundgang durch die zehn Bezirke an. Die Mariahilfer Straße, das erste Ziel ihrer Wanderung, macht durch ihren überaus lebhaften Verkehr, die ununterbrochene Reihe von Verkaufsgewölben, die stattlichen, zum Theil modernen Häuser und öffentlichen Gebäude einen weltstädtischen Eindruck. Die Straße bildet die Grenze zwischen den Bezirken Mariahilf und Neubau und verbindet mit ihren Endpunkten die innere Stadt mit dem stark bevölkerten Vororte Fünfhaus. Abends, wenn die Arbeiterbevölkerung nach ihren in den Vororten gelegenen Wohnungen zurückkehrt, herrscht in der Straße ein derartiges Gedränge von Fußgängern und Fuhrwerk, daß man Mühe hat, durchzukommen. Die rechte Ecke der Mariahilfer Straße bildet das Hofstallgebäude, ein ziemlich ausgedehnter Bau, nach den Plänen des Fischer von Erlach ausgeführt. Es bildet jetzt den ziemlich schmucklosen Hintergrund des großartigen, seitwärts von den Hofmuseen eingerahmten Maria Theresia-Platzes. Weiter oben steht die neugebaute, mächtig wirkende Stiftkaserne mit der technischen Militärakademie. Der Thurm der Stiftkirche fällt durch seine zierliche Bauart mit der mehrfach durchbrochenen Krönung angenehm auf. Die Mariahilfer Kirche mit einem vielverehrten Gnadenbilde der Madonna giebt dem Bezirke seinen Namen. Vor derselben ist das von Natter ausgeführte Marmorstandbild Josef Haydns.

Die Karlskirche.

Durch das Barnabitengäßchen an der Langseite der Kirche vorbei gelangt man zum Esterhazygarten mit dem gleichnamigen Palais, einst ein Besitz des allmächtigen Kanzlers Fürsten Kaunitz. Durch einen Theil des Grundstückes wurde die mit prächtigen Neubauten umgebene Amerlinggasse geführt. Das geschäftige gewerbreiche Leben dieser Hauptverkehrsader setzt sich auch theilweise in dem anstoßenden Bezirke Neubau fort, insbesondere in der Kirchengasse und der ehemaligen Vorstadt Spittelberg.

Mit dem Bezirke Mariahilf sind die einstigen Vorstädte Laimgrube, Windmühle und Gumpendorf verschmolzen worden. Die Vorstadt Laimgrube bietet noch vielfach das Bild des früheren einfachen Lebens; doch hat auch hier schon die Baulust mächtig eingegriffen und manches altehrwürdige Gebäude der Vernichtung geweiht. An der Stelle des sagenumwobenen Jesuitenhofes steht gegenwärtig die k. u. k. Geniedirektion und die Kriegsschule. Das weitläufige Dreihufeisenhaus mußte der Engelgasse weichen, und auch das Wasenhaus, welches durch seine Schauspielerherberge „Im Loch“ eine burleske Berühmtheit erlangte, ist in jüngster Zeit abgebrochen worden. Nur die Laimgrubengasse, die stille Theobaldgasse mit dem ehemaligen Zwangsarbeitshause, die Bienen- und Fillgradergasse, dann die Königsklostergasse mit der Bettlerstiege sind bisher verschont geblieben. Ein nicht sehr erfreuliches Ueberbleibsel aus alter Zeit ist das „Ratzenstadtl“ auf dem ehemaligen Magdalenengrund, ein unschönes Häusergewirre mit Giebeln und Vorgärten und vernachlässigten ärmlichen Behausungen, in welchen merkwürdigerweise die Würstelindustrie, eine Spezialität des Wiener Selchergewerbes, blühte.

Der Bezirk wird an der Ostseite vom Wienflusse begrenzt. Zahlreiche Brücken stellen die Verbindung mit den Bezirken Wieden und Margarethen her. In der Nähe der Leopoldsbrücke ist das geräumige „Theater an der Wien“, ein blühender Musentempel, in welchem vorzugsweise die Operette gepflegt wird und der eine stolze Vergangenheit aufzuweisen hat.

Der Bezirk Margarethen, aus den Vorstädten Margarethen, Hundsthurm, Nikolsdorf, Matzleinsdorf bestehend, ist der Sitz des Kleinbürgerthums und hat in den letzten Jahren durch Neubauten von ganzen Straßenzügen eine große Bevölkerungszunahme zu verzeichnen. – Der Bezirk Wieden wird wegen seiner Lage zunächst den Verkehrsmittelpunkten, wegen seiner neuen und bequemen Häuserviertel und der im anstoßenden Bezirke Landstraße gelegenen großen öffentlichen Gärten gerade so wie der letztgenannte Bezirk mit Vorliebe von der wohlhabenden Bevölkerung, dem Gelehrten- und höheren Beamtenstand zum Wohnorte gewählt. Die Elisabethbrücke verbindet die Wiedener Hauptstraße mit der verlängerten Kärntnerstraße. In unmittelbarer Nähe der Elisabethbrücke befindet sich ein großer offener Marktplatz für Obst, Gemüse und Geflügel, der bei den Wienern sehr volksthümliche Naschmarkt, welcher in den Morgenstunden ein bewegtes, überaus buntes und lustiges Bild des Markttreibens bietet. Hier findet man noch eine Anzahl der urwüchsigen Wiener Typen beisammen: die zungengewaltige Naschmarkt-Fratschlerin (Hökerin), die jede Neckerei mit einem bilderreichen Schwall von Grobheiten beantwortet; den Greisler (Gemischtwarenhändler) mit seinem von einem Hunde gezogenen Handwagen; den Zwiesel-Kravat (Slowaken), die Kapäunlerin (Geflügelhändlerin), den Patschen- (Pantoffel-) und Waschel- (Scheuerbüschel-) Händler, den Vogelkramer und den Vogeldresseur, welcher abgerichtete Vögel hält, die den abergläubischen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 508. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_508.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2023)