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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Da werden sie leicht umgangen oder übersprungen. Höher droben aber, wo auch im Hochsommer oft Neuschnee liegt, bedeckt dieser die Risse mit trügerischen Brücken. Hier schützt nur das Gletscherseil, das die Reisenden untereinander verbindet, sodaß, wenn auch der eine oder andere die dünne Schneekruste durchbricht, er doch nicht in die Tiefe stürzen kann, sondern von den Gefährten mit kraftvollem Ruck wieder emporgezogen wird. Für den einzelnen freilich, der es wagen wollte, ein zerklüftetes und überschneites Firnfeld zu überschreiten, wäre das fast der sichere Tod. Die breitesten jener Schründe sind die Randklüfte, die sich dort finden, wo das Eis- oder Firnfeld an Felswände anstößt. Sie sind häufig viel zu breit, um übersprungen werden zu können, und müssen dann durch verwegene Kletterkünste überwunden werden; natürlich mit Hilfe des Gletscherseils und mittels Stufen, welche die Eisaxt in die krystallenen Wände schlägt. Da das Eis der Gletscher in beständiger, wenn auch langsamer Bewegung ist, verändern sich allmählich auch die Spalten; und selbst die wegkundigsten Führer müssen in jedem Sommer den Pfad aufs neue suchen, den sie in früheren Jahren schon hundertmal gegangen sind.

Wo steile Schneefelder dachförmig aufsteigen oder über jähen Felshängen abbrechen, entstehen durch die Gewalt der Stürme überhängende Schneemassen, sogenannte „Wächten“. Sie bilden scheinbar breite bequeme Wegstrecken, doch unter ihnen lauert der Tod; denn leicht brechen sie unter dem Gewicht eines Menschen ein und stürzen sammt dem Unvorsichtigen in den gähnenden Abgrund. In tieferen Lagen dagegen sind Schneefelder häufig von Bergwassern unterwaschen und unterhöhlt; es entstehen Schneebrücken und Schneeschilde, die oft genug den Wanderer tragen, manchmal aber doch unter seinem Fuße einbrechen und ihn zwischen Eis und Fels ein düsteres Ende finden lassen, ein Ende in Frost und Finsterniß, wo niemand seinen letzten Hilferuf vernimmt.

Auch der sicherste Tritt schützt nicht, wo der Boden unter dem Wanderer weicht. Es trifft sich manchmal, daß auf geneigten Eisfeldern oder Felsplatten lockerer Schnee liegt, der ins Abschießen geräth, wenn man ihn betritt, und dann den Reisenden mit sich in die Tiefe nimmt.

Ist dies eine Gefahr, der man in vielen Fällen, wenn auch nicht immer, ausweichen kann, so ist eine andere, die von oben kommt, drohender und unheimlicher. Denn auch ein stählernes Sprunggelenk, auch ein schwindelfreies Haupt schirmen nicht gegen Schnee- und Eislawinen und gegen die gefürchteten „Steinschläge“. Schneelawinen gehen von steilen Schneehängen um die Mittagszeit, oder wenn der warme Föhn weht, ungemein häufig ab. Die entsetzliche Wucht, mit welcher sie alles fortreißen, was sie ergreifen, macht den Menschen gegen sie völlig machtlos; die Schnelligkeit ihres Sturzes läßt eine Flucht vor ihnen kaum als möglich erscheinen. So bleibt denn nichts übrig, als die Lawinenwege in größter Schnelligkeit und thunlichst in solchen Tageszeiten und bei solcher Witterung zu kreuzen, wo am wenigsten von dieser vernichtenden Naturerscheinung zu fürchten ist. Nicht harmloser, nur seltener sind die Eislawinen, welche niedergehen, wenn übereinandergethürmte Eismassen, durch die Tageswärme in ihrem Zusammenhange gelockert, einstürzen und mit zerschmetternder Gewalt in die Tiefe sausen.

Etwas Aehnliches sind die Steinschläge. Auch der härteste Fels verwittert und sendet von Zeit zu Zeit Trümmer in die Tiefe; von Absturz zu Absturz fallend, erhalten sie zuletzt die rasende Geschwindigkeit von Kanonenkugeln. Der flüchtige Fuß einer Gemse kann ein Geröllstück loslösen, abschmelzendes Eis kann es aus seiner Lage bringen. So giebt es besondere verrufene Stellen, die um der Steinschläge willen möglichst gemieden werden; aber auch an jedem andern Platze, wo hohe Felswände den Weg überragen, kann jählings solch ein tödliches Geschoß mit unheimlichem Pfeifen und Krachen niedergehen.

Wir haben in vorstehendem nur die häufigsten Gefahren des Hochgebirges aufgezählt, das sind indessen noch nicht alle. Oft müssen tobende Gletscherbäche auf schwankenden Baumstämmen überschritten oder mit keckem Schwung übersprungen werden; steile Schutthalden und Sandriffe gerathen unter dem Fuß in rollende Bewegung. Und hoch droben in den schweigenden Wildnissen des ewigen Eises hausen Schneestürme, von deren todbringender Gewalt sich derjenige keine Vorstellung macht, der niemals jene Wüsten betrat.[1]

Aber das Menschengeschlecht hat in allen Jahrhunderten der fortschreitenden Civilisation jene Kühnheit nicht verloren, die es in grauer Vorzeit durch den beständigen Kampf gegen eine übermächtige Natur sich erwarb. Und mit dieser Kühnheit wagen sich Unzählige immer wieder hinauf in Fels und Eis, um sich der unvergänglichen Schönheit des Hochgebirges zu erfreuen.

Auch die Bergwanderer, die unser Bild vorführt, gehören zu diesen Kühnen. Sie sind im Absteigen über eine ziemlich bedenkliche Stelle begriffen. Eine steile Kletterpartie durch eine Felsrinne haben sie schon hinter sich, um nun ein scharf geneigtes Schneefeld zu überschreiten, während ein paar in der Höhe losgelöste Felstrümmer zwischen ihnen niederkrachen, glücklicherweise ohne einen von der waghalsigen Gesellschaft zu treffen. Es ist einer jener Augenblicke prickelnder Aufregung und packenden Ernstes, die solche Wanderungen zu unvergeßlichen Erinnerungen gestalten. Unsere Reisenden werden mit dem Schrecken davonkommen und heil ins Thal hinabgelangen, weil sie so weise waren, sich mit guten Führern zu versehen, mit Führern, denen man es ansieht, daß sie allen Schrecknissen und Mühen gewachsen sind. Und das ist das einzig Richtige bei solchen Wanderungen. Kühnheit allein vermag wohl den Gefahren ins Gesicht zu schauen; aber um sie auch zu überwinden, muß man sie kennen, wie die Alpenführer sie kennen. Es ist sinnlos, sich der Gefahr muthwillig aufs Gerathewohl entgegenzuwerfen, wo doch keine Nothwendigkeit dazu zwingt, wo vielmehr in den Führern sich die zuverlässigsten Lehrmeister bieten, um sie vorsichtig zu vermeiden oder sicher zu bestehen. Diese rauhen und einfachen Söhne des Hochlands haben einen prächtigen Zug in sich. Wenn sie auch zunächst der Erwerbstrieb dazu bringt, Führer zu werden, so wird in ihnen doch von dem Augenblicke an, wo die Noth beginnt, jeder andere Gedanke zurückgedrängt durch das brave und treue Gefühl, daß sie ihren Reisenden Hüter und Helfer sein wollen.




Das Eisenbahnunglück bei Mönchenstein.

Von einem der unheilvollsten Ereignisse in der Geschichte der Eisenbahnunfälle wurde am 14. Juni die Strecke Basel-Delsberg der Jura-Simplonbahn betroffen; infolge eines Brückenbruchs verunglückte ein Zug, der mit Theilnehmern an einem in Mönchenstein stattfindenden Sängerfeste überfüllt war. Die beiden vorgespannten Lokomotiven sowie mehrere Personenwagen und ein Postfahrzeug stürzten in die hochgehende Birs. Die nachfolgenden Wagen blieben zwar auf dem Geleise beziehungsweise auf dem Brückenpfeiler stehen, jedoch auch ihre Insassen kamen vielfach zu Schaden. Ueber 70 Todte und eine Menge von Verwundeten waren die Opfer. Die Einzelheiten und die erschütternden Vorgänge, welche sich an Ort und Stelle abspielten, sind durch die Tagesblätter ausführlich behandelt worden, und wir wollen Bekanntes nicht wiederholen. Eine Anschauung von den Verwüstungen giebt unsere Abbildung.

Die vorläufigen Nachforschungen haben einen Mangel in der Bauart oder im Material der Brücke nicht feststellen können, doch bleibt eine nähere Untersuchung bis nach Bergung sämmtlicher Bruchstücke vorhehalten. Ob eine solche überhaupt zur Klarheit führen wird, ist zum mindestens zweifelhaft, da hier, wie in allen derartigen Fällen, sämmtliche Theile der Brücke und der Fahrzeuge so zerbrochen und verbogen sind, daß es unmöglich erscheint, den Ausgangspunkt der Zertrümmerung und somit die grundlegende Ursache mit Sicherheit festzustellen.

Aber eine furchtbar ernste Mahnung ist dieser Fall für die Ingenieure, sowohl für diejenigen, welche den Entwurf zum Bau einer Brücke anfertigen, als für die Leiter des Betriebes, welchen deren stetige Beobachtung obliegt.

Nach dem ersten Bilde, welches die Brücke vor dem Unfalle darstellt, war diese nach dem sogenannten „Diagonalsysteme“ gebaut und hatte „unterliegende Fahrbahn“. Die Eisenbahnschienen ruhen bei solchen Brücken auf Querträgern, diese sind mit dem untern Theile (der untern Gurtung) der Hauptträger verbunden, die sie hier zu einem festen Systeme verbinden. Um auch die obern Theile der Hauptträger (die obere Gurtung) miteinander in Verbindung zu setzen, sind durchbrochene Querträger und über Eck reichende Flacheisen benutzt. Von der obern zur untern Gurtung reichen Diagonalverbindungen, welche wegen ihres sogenannten Dreiecksverbandes den nöthigen Widerstand gegen Verschiebungen leisten. Das System der Brücke ist vom Standpunkte des Ingenieurs vollständig einwandsfrei. Auf den Laien macht allerdings das Bauwerk den Eindruck des Spinngewebes, aber man bedenke wohl, daß hier der Schein ungemein trügt. Nicht die Menge des Materials, sondern die Anordnung desselben ist das Entscheidende. Die Ingenieurkunst ist imstande, im voraus genau zu berechnen, wie viel Zug oder Druck auf jeden Stab entfallen wird und zwar sowohl bei ruhiger Belastung, als auch, wenn ein Eisenbahnzug — und zur Sicherheit wird ein aus lauter Lokomotiven bestehender angenommen — über die Brücke saust.

Diese Berechnungen werden mit äußerster Sorgfalt angestellt und von der Behörde mit derselben Sorgfalt nachgeprüft. Ferner wird das zur Herstellung benutzte Eisen- und Stahlmaterial gewissenhaft erprobt und gesichtet, ehe es zur Verwendung kommt.

Sobald die Brücke an Ort und Stelle fertig dasteht, wird sie einer streng beaufsichtigten Probebelastung, zunächst mit ruhiger Last, etwa mit Eisenbahnschienen, unterworfen. Dabei wird beobachtet, wie viel sich die Brücke an verschiedenen Stellen durchbiegt, ob und bis zu welchem Grade die Durchbiegung nach Entfernung der Last wieder verschwindet. Ein geringes Maß „bleibender Durchbiegung“ ist stets ein Zeichen guter Ausführung.


  1. Der Schweizer Alpenklub hat 1886 ein recht brauchbares Schriftchen über „die Gefahren des Bergsteigens“ (Verlag von Schultheß in Zürich), verfaßt von H. Baumgartner, herausgegeben, welches an dieser Stelle erwähnt werden mag.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 498. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_498.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2023)