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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

als ob es ihn gar nichts angehe, als ob er diese Frau nie gekannt und diese Lippen nie geküßt habe.

Und nun sah er sie an, mit neugierigem Erstaunen, das noch mit einem leisen Schauer der Erregung gemischt war. Schön, dämonisch schön, sagte eine Stimme in ihm, und für ihn klang das so gleichgültig, als habe es jemand neben ihm gesprochen.

Lea hatte ihre Augen in die Ferne gerichtet und spürte doch, daß er sie anblickte. Allein ihre Seelen irrten auseinander. Während er sich traumverloren ferner und ferner von ihr fühlte, rang sie in heißen Tönen, um ihn noch einmal zu binden, und sei es auch nur für die Sekunde eines schmerzlichen Blicks.

Sie endete. Alles jubelte Beifall. Der Fürst lächelte, es war ein zärtliches Lächeln, und er küßte seiner Frau die Hand auf eine besondere und bedeutungsvolle Art. Lea erzitterte und ihr Auge flog schnell zu dem andern Mann hinüber. Da sah sie, daß jener die kleine Scene beobachtet hatte und daß auch er lächelte mit einem Ausdruck, vor welchem ihr Herz erstarrte.

Der Sänger, welcher sich vorhin von seinen Freunden hatte entdecken lassen und Lea geschickt begleitet hatte, ließ sich nun nicht mehr halten. Er wollte auch gehört sein. Und unter Schumann that er es nicht. Er begleitete sich selbst und erging sich zunächst in einem phantasierenden Vorspiel.

Lea war in der Nähe des Flügels, gegenüber von Clairon stehen geblieben. Es waren kaum zehn Schritte zwischen ihnen.

Der musikalische Herr begann zu singen: „Ich grolle nicht“. Ob er gut sang oder schlecht, ob er Stimme hatte oder keine – weder Clairon noch Lea hörte es. Sie vernahmen nur die höhnischen Worte eines Herzens, welches ohne Mitleid verzeiht.

Und da kam die Sekunde, wo ihre Augen sich nicht mehr flohen.

Sie schauten sich an, lange, so lange, als das Lied dauerte.

Was alles eine Menschenseele in ein Auge hineinlegen kann, sie faßten es zusammen in diesem Blick.

Und der Mann las die ganze Geschichte eines verlorenen Lebens in den Augen der Frau. Von der Schmach des Ehebundes ohne Liebe sprachen sie, von der verzweifelten Reue über das selbstbesiegelte Geschick, von den dunklen Stunden, wo mit künstlichem Leichtsinn vergebens Vergessenheit gesucht wird und nur erhöhter Ekel bleibt; und auch davon redete ein scheu aufflackernder, heißflehender Blick, daß dieses arme Herz noch immer ihn, nur ihn allein liebe.

Und das Weib las ebenso deutlich in des Mannes Seele. Da war kein Kampf mehr, nur ernste, eherne Ruhe. Wie ein Richter stand er vor ihr, stumm und doch so beredt. Und das Urtheil lautete auf „schuldig und verdammt“.

Das Lied endete. Wie ein Nachhall schwebte es durch den Raum:

„Ich sah, mein Lieb, wie sehr Du elend bist.“

Da lösten sich ihre Blicke auseinander.

Und Robert Clairon ging mit festen Schritten auf sein Weib zu. Er reichte dem edlen Freund, der schützend neben ihr gestanden hatte, mit starkem Druck die Rechte und sah ihm tief in die verständnißvollen Augen:

„Komm, mein Weib,“ sprach er mit einer unendlichen Güte in der bebenden Stimme, „komm heim! Es verlangt mich nach meinem Knaben.“

Und Erasmus Lüdinghausen sandte ihm einen frohen, beruhigten Blick nach.




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Gefahren beim Bergsteigen.

Von M. Haushofer.

Sommer um Sommer wandern Tausende in die Alpen, um an deren Größe das Herz zu stärken und zu erfreuen. Aber nur wenig Auserlesenen ist es vergönnt, die wilde Hoheit der Bergnatur bis in ihre verborgensten Geheimnisse zu verfolgen. Denn dazu gehört zwar nicht viel Geld, aber stählerne Kraft in den Gliedern, ein schwindelfreier Kopf, zähe Ausdauer und vor allem jene feurige Liebe zum Naturschönen, die alle Mühsal und alle Entbehrung gewohnter Bequemlichkeit, die Hunger und Durst, Frost und Nässe als geringfügige Uebel erscheinen läßt gegenüber den großen und erhebenden Freuden, die der Lohn des Bergwanderers sind.

Soweit die Pflanzenwelt hinaufreicht, ist von ernsten Gefahren keine Rede – für den, der die Berge kennt. Wer sie aber nicht kennt, dem drohen Gefahren schon in solchen Höhen, wo er noch das Rauschen der Flüsse aus den Thälern und den Schlag der nächsten Dorfuhr vernimmt. Er braucht nur muthwillig vom gebahnten Wege abzuweichen, den tiefen Stand der Sonne oder aufsteigende Dunstballen zu mißachten; dann kann es ihm leicht geschehen, daß er nach stundenlangem Umherirren in Nacht und Nebel plötzlich an einer Felswand hängt, die unter ihm steil und thurmhoch in die Tiefe schießt, und es bleibt ihm nichts übrig, als zu warten, bis es Tag wird oder bis ihm nach stundenlangem Rufen ortskundige Leute zu Hilfe kommen. So fordern nicht die entlegenen Hochgebirgswüsten, nicht die in ewigem Eise prangenden Gipfel die meisten Opfer, sondern die Voralpen, die Umgebungen stark besuchter Alpendörfer, jene Wegstrecken, wo es sich von selbst versteht, daß der Fremde ohne Führer geht und dem Reize folgt, der darin liegt, sich selber den Pfad zu suchen. Die Veranlassung, vom rechten Wege abzuweichen, liegt ja oft in der Beschaffenheit der Alpensteige, von welchen jene, die zu aufgegebenen Weideplätzen, Holzschlägen oder Köhlerhütten führen, in Verfall gerathen und leicht zu Irrwegen werden können. Oft spielt auch eine seltene Blume die Rolle des Verführers oder ein erwarteter Aussichtspunkt oder die Lust, die Rückwanderung nach dem Alpendorf abzukürzen. Alljährig liest man von Unfällen, die sich bei solchen Gelegenheiten zutragen; denn der jähe Bergtod kann hinter jedem Fels, an jedem auch nur haushohen Absturz, in den Wirbeln jedes Wildbachs lauern.

In seiner ganzen wilden Größe schaut er unverhüllt den Wanderer im Hochgebirge an. Verschiedener Art aber sind die Fährlichkeiten, welche das nackte Felsengeripp der Berge bietet, von jenen, die im Schnee und im Eise drohen.

Dem Wanderer, der einmal über die Grenze des Planzenwuchses hinaufgestiegen ist, bieten steile Felswände, schräg abschießende Platten, Risse und kaminähnliche Spalten in den Felsen, kammartige Schneiden, riesige Trümmerfelder Veranlassung zu Kletterkünsten aller Art. Bei solchen Kletterpfaden ist es zunächst das eigene Nervensystem, das den Wanderer gefährdet, der Schwindel, der den Ungeübten leicht befällt. Er ist ein Feind, der nur durch die Uebung bezwungen wird, durch den allmählichen Uebergang vom Leichten zum Schwereren. Wen er anfällt, dem beginnt die Landschaft vor den Augen zu schwanken, den überkommt mit jähem Schreckgefühl das Bewußtsein, daß er seines Trittes, seines Griffes nicht mehr mächtig sei; aus der Tiefe des Abgrunds, der unter seinen Füßen liegt, kriecht eine unheimliche ungeheure Angst zu ihm herauf und umfängt ihm die Sinne, bis er taumelt, strauchelt und stürzt.

Eine andere Gefahr, auch für den Schwindelfreien, liegt in der Unsicherheit des eigenen Tritts. Für den geübten Bergwanderer ist jeder Tritt sicher, wenn sich eine Handgroße Fläche bietet, worauf er stehen kann; ja es giebt Jäger und Führer, die auf einem fingerbreiten Felsvorsprung festen Fuß fassen können. Der Neuling braucht freilich mehr. Ist aber das Stückchen Boden, auf welches man den Fuß setzen will, nicht eben und nicht rauh genug, sondern etwa schräg geneigt, abgerundet oder glatt, dann könnte selbst der Geübteste abgleiten. Hier ist es nun Sache des erfahrenen Blicks, zu entscheiden, wo ein Halt gewonnen werden kann, wo nicht. Mitunter, wenn mehrere solche Tritte sich folgen, muß jene Entscheidung während des flüchtigen Sprunges geschehen.

Schwieriger wird diese Frage, wenn der Fels brüchig, wenn er mit Schnee oder Eis überkleidet, von einem Bergwasser überrieselt ist. Es giebt ja Felsarten, auf deren Haltbarkeit der Wanderer vertrauen kann. So Granit und Gneis und die meisten Kalkfelsarten. Aber verwitterte Schiefer zerbröckeln unter Hand und Fuß. Da muß bei jedem Tritte und Griffe erst geprüft werden, ob der Boden oder die Wand, auf die man sich verläßt, tragfähig ist.

Die Launen der Natur haben manche seltsame Bildungen der Erdrinde geschaffen, die sich dem Alpenfreunde in den Weg stellen. Man wandert auf einem Berggrat fort, der einen erträglich sicheren und breiten Pfad bildet, wenn man sich nur erst gewöhnt hat, von den rechts und links klaffenden Abgründen sich nicht schrecken zu lassen. Plötzlich ist der Grat tief und breit eingerissen; da gilt es, sich am Seile hinunterzulassen auf einige aus der Tiefe emporragende Felszacken und dann jenseits emporzuklettern, bis die Grathöhe wieder erreicht ist. Oder wir gehen längs einer steilen Wand auf schmalem Felsenbande hin. Plötzlich endet das Band an einer jähen Rinne, durch welche wir aufwärts kriechen müssen, um ein neues Felsband aufzufinden, das an der Wand weiterführt. Oder wir wandern fürder auf einem breiten Plattenwege, breit wie eine Straße unserer Hauptstädte. Auf einmal finden wir, daß die früher kaum geneigten Steinflächen eine immer schrägere Stellung nach dem Abgrunde zu aufweisen und dabei immer glatter werden. Nun beginnen wieder die Kletterkünste; bald ist unser Halt eine schmale Ritze, gerade tief genug, um ein paar Finger hinenzupressen, bald ein Moospäckchen, das an Felsen hängt und dessen Haltbarkeit wir vorsichtig prüfen. So arbeiten wir uns hangend, liegend, kriechend fort, bis der Boden wieder eine liebenswürdigere Gestalt annimmt. Ein andermal winkt uns ein schräg abfallendes Feld von riesenhaften Trümmern, die oft in schwankende Bewegung gerathen, wenn wir sie betreten. Da gilt’s mit keckem Schwunge von einem Block auf den andern zu springen und dann sofort, auch auf der schmalsten Aufsprungstelle, sicher zu stehen. Denn ein Fehlsprung kostet hier zwar nicht gleich den Hals, kann aber doch die Ursache eines Beinbruchs oder ähnlicher Verletzungen werden.

Ganz anders gestalten sich die Dinge auf Schnee und Eis. Die Schrecknisse der Felsenwelt schauen dem Wanderer offen und trotzig ins Gesicht; die des Eises und des Schnees sind versteckter, tückischer. Die bekannteste Gefahr der Gletscherwelt sind die Spalten, welche die meisten Gletscher und Firnfelder bis in grauenhafte Tiefen hinunter zerschründen. Wo die Gletscher gegen die Thalsohle zu heruntersteigen, gähnen jene Klüfte dem Reisenden offen entgegen, in prächtiger blaugrüner oder weißlichgrüner Färbung.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 496. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_496.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2023)