Seite:Die Gartenlaube (1891) 477.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Der Bürgermeister aber drängte zum Aufbruch, indem er sagte, dies sei keineswegs unser eigentliches Abendessen, wir würden dasselbe vielmehr in seinem Hause finden, wo auch eine größere Gesellschaft uns erwarte. An dem reichbesetzten Tische des Bürgermeisters ließen wir’s uns dann auch zum zweiten Mal schmecken, tranken aber mehr als wie aßen; denn es liegt in der Natur des Kulturmenschen, daß sein Durst ausdehnsamer ist als sein Hunger. Die Unterhaltung war sehr lebhaft und Mitternacht unvermehrkt herangekommen, als wie endlich aufbrachen und bergauf zu unserer Wohnstätte wanderten, zu der oberen Kaltwasserheilanstalt. Wir wollten uns ganz still auf unsere Stube schleichen, da begrüßte uns unsere junge Wirthin im schönsten Sonntagskleide und führte uns in das Staatszimmer, wo der Tisch gedeckt stand – mit einem dritten Abendessen! Sie hatte nicht gewußt, daß wir bereits im Mühlbad, entgegen dem Programm des Bürgermeisters, mit einem ersten und beim Bürgermeister, entgegen ihrem eigenen Programm, mit einem zweiten Abendessen überrascht worden waren. Sie hatte ohne Zweifel während langer Stunden peinlichen Wartens über Unpünktlichkeit gezürnt, aber sie hatte ausgeharrt und ein sehr gewähltes Mahl warm halten lassen, bis wir nach 12 Uhr ankamen; sie ließ uns keine Spur von Verstimmung merken und begrüßte uns so liebenswürdig, als ob wir fünf Stunden früher gekommen wären. Von Rührung, Dank und Mitleid erfüllt, entschuldigten wir uns aufs gründlichste und konnten auch weiter nicht widerstehen: – wir setzten uns zum dritten Abendessen, zur Sühne unserer Schuld, die eigentlich gar nicht unsere Schuld war. Wir nippten am Glase und thaten, als ob wir äßen, aber wir behaupteten uns beide auf der Höhe der Situation und suchten durch erlesene Artigkeit und beste Laune alles wieder gutzumachen.

Als wir gegen 1 Uhr endlich zu Bett gingen, meinte Scheffel, er habe nicht gewußt, daß es so anstrengend sei, auch nur einen halben Tag von lieben Leuten gefeiert zu werden. In seinem späteren Leben wird er diese ihm damals noch neue Thatsache öfters bestätigt gefunden ud entdeckt haben, daß es bei solcher Gelegenheit sogar noch Anstrengenderes zu ertragen giebt als drei Abendessen an einem Abend.

Alpenrosen.
Nach dem Gemälde von Otto Piltz.
Photographie von Franz Hanfstaengl A.-G. in München.


Des anderen Morgens begleiteten uns mehrere der neuen Freunde zum Rhein, wo wir einen Kahn mietheten, um zum rechten Ufer zurück zu fahren. Nach herzlichem Abschied bestiegen wir das kleine Fahrzeug und entdeckten erst, als wir schon in den Strom hinaus trieben, daß unser Fährmann eigentlich kein Mann, sondern ein halbwüchsiger Junge war, der nur mit Mühe Kahn und Fluth beherrschte.

Während wir so auf dem Wasser dahinglitten, begann Scheffel mir die Geschichte von der Meerfahrt des Pfalzgrafen Ottheinrich und dem Enderle von Ketsch zu erzählen, die er unlängst im alten Merian gefunden hatte. Er war eben zu der Stelle gekommen, wo Enderles Geist, in Hemdärmeln am Maste seines Schiffes stehend, dem entgegenfahrenden Pfalzgrafen zuruft: „Weichet, Herr Pfalzgraf, weichet, der dick’ Enderlein von Ketsch kommt!“ als zwei Dampfer, der eine zu Berg, der andere zu Thal fahrend, unsere Bahn kreuzten. Unser Nachen begann bedenklich auf den Wellen zu tanzen, die durch die Enge und die Krümmung des Stromlaufes doppelt hoch aufschlugen, der Fährbube verlor alle Macht über seine Ruder, und eine mächtige Woge traf unsere Breitseite, daß wir beinahe umgeschlagen wären. Scheffel erschrak sehr und verstummte mitten in seiner Geschichte; ich erschrak nicht minder, bat ihn aber, weiter zu erzählen, denn wenn es uns beschieden sein sollte, nach dem gestrigen Tage hier angesichts der gastlichen Stadt zu ertrinken, dann könnten wir’s jetzt doch nicht mehr ändern. Darüber waren wir aus den schlimmsten Wellen herausgekommen. Doch beendete Scheffel seine Geschichte erst, als wir wieder auf festem Boden standen, und zwar indem er sie wieder von vorn anfing. Er sagte mir übrigens damals noch kein Wort, daß er den Enderle von Ketsch poetisch behandeln wolle. Vielleicht hat ihm die Erinnerung an unsere Kahnfahrt die Geschichte des alten Merian so fest eingeprägt, daß er sich in Versen wieder von ihr befreien mußte.

Noch einen letzten Blick des Abschiedes auf Boppard, und wir schritten fröhlich weiter gegen Braubach, wo wir hinter der Marxburg bergan stiegen und, quer über die Höhen kreuzend, bei Dausenau das Lahnthal gewannen. Wir umgingen auf diese Weise Bad Ems, welches uns zu vornehm war, als daß wir’s hätten besuchen mögen. Wir streiften lieber durch Wälder und Wiesen als durch Villenstraßen und Kurpromenaden.

Nachdem wir zwei Tage lang das malerische Lahnthal aufwärts gewandert waren, trennten wir uns angesichts des Limburger Domes, der so unvergleichlich auf dem Felsen über dem Flusse thront, Scheffel südwärts, ich nordwärts weiterreisend. Beim Abschied bat mich Scheffel, ihm meine Landkarte des Odenwaldes zu leihen, die ich bei mir trug, weil ich ja anfangs jene Berge hatte aufsuchen wollen. Als er mir nach längerer Zeit die Karte zurückschickte, fand ich die Orte, welche er berührt hatte, von seiner Hand mit Bleistift unterstrichen. Er war von Zwingenberg zum Rodenstein gegangen und hatte fast alle Nachbarorte der Burg besucht, um dann über Rehbach und Asselbrunn ins Mümlingthal hinüber zu wechseln, wo ich seine Spur von Fürstenau bis Beerfelden verfolgen konnte. Dort hörten die Striche auf. Als ich später die lustigen „Lieder vom Rodenstein“ las, erkannte ich, daß Scheffel Lokalstudien dazu auf dem Heimweg von unserer fröhlichen Rheinfahrt gesucht hatte. Denn neben dem Rodenstein war das „treue schnapsbrennende Reichelsheim“ unterstrichen und „Gersprenz der fromme, züchtige Ort.“ Nur „des Odenwaldes Kronjuwel, Pfaffenbeerfurt, die duftige Mistfinkenhöhl’“ hatte keinen Strich.

Scheffels Nase scheint ihre Forschungen dort zu einer anderen Zeit gemacht zu haben.



Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1891). Leipzig: Ernst Keil's Nachfolger, 1891, Seite 477. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_477.jpg&oldid=- (Version vom 6.9.2023)