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verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

ihrem milden Wesen nicht zutrauen möchte. Ohne daß sie je laut hervortritt, ordnet man sich ihr unter. Unsere Frauen wissen, was sie an ihr haben.“

Der alte Herr hatte sich ganz warm gesprochen und auch in mir das freundschaftliche Gefühl für Frau Cilli neu gesteigert; und wie sie jetzt mit dem Silberkränzchen auf dem blonden Haar vor uns stand, erschien sie mir nur noch ehrwürdiger. Als die Gäste endlich gegangen waren und wir „en famille“ in der Fliederlaube saßen und den Kaffee tranken, hatte ich eigentlich bloß noch Augen und Ohren für sie, wie sie zu jedem ihrer Kinder nach deren Alter und Lebensstellung ein anderes und immer das wohlthuendste Verhältniß fand und dem Schwiegersohn recht freundschaftlich gute Lehren gab, damit er auch einmal eine so fröhliche silberne Hochzeit feiern könne. Ihren Mann schalt sie, ohne sich ihm doch zu entziehen, wegen seiner Zärtlichkeit aus, die der Wein verschulde. Das wollte er aber nicht gelten lassen. „Es sind freilich mehr als dreißig Jahre darüber vergangen,“ sagte er, „daß ich den ersten Kuß bekommen habe – ja, ja! der Freund kann’s ungefähr nachrechnen – aber ich hoffe doch, daß dieser jetzige“ – er drückte ihn herzhaft auf ihren Mund – „noch lange nicht der letzte sein wird.“

Sie ließ ihm ihre Hand und lehnte sich an seine Schulter, doch nur, um sich gleich wieder aufzurichten. Eine Minute lang schien sie etwas zu bedenken; es war, als ob es in ihren hellleuchtenden Augen schon fertig dastände, während es sich hinter der Stirn erst fornte. Sie blickte still über den Kreis ihrer Kinder hin, nahm das Gesicht ihres Mannes zwischen ihre Hände und fragte: „Bist Du nun mit Deinem Geschick zufrieden, Eduard?“

Er schien zu stutzen, als hätte für ihn die Frage noch eine ganz besondere Bedeutung. Dann umarmte er sie und sagte: „Mein liebes, liebes Weib!“ – Er war ernster geworden, sah auf das Silbersträußchen in seinem Knopfloch hinab und fuhr im schlichtesten Ton fort: „Kein Mensch kann auf diesen Schmuck mit größerem Stolz, mit innigerer Freude blicken als ich. Wie hat man uns heute geehrt, wie viele gute Worte der Anerkennung haben wir vernommen, wie überzeugend aufrichtig hat man unser Glück gepriesen! Und wie wenig ist doch davon in die Erscheinung getreten, für alle sichtbar geworden! Was wir einander gewesen sind, wissen ja selbst die Kinder nicht ganz; kaum haben wir’s eines dem andern gestanden. Aber es ist gut, daß so ein Tag kommt, an dem Rechenschaft gehalten und ein klares Urtheil gesprochen wird. Ob ich glücklich bin? – Von ganzem Herzen!“

Es schien sie zu durchschauern. „Du hast recht,“ sprach sie verloren vor sich hin, „es ist gut, daß solche Stunden kommen. Da dürfen wir jene Augenblicke vergessen, wo wir nach dem rechten Weg zum Glück nur unsicher tasteten, wo so wenig, so ganz wenig fehlte und –“ Sie brach plötzlich ab, wie erschreckt durch die eigenen Worte und die fragenden Blicke, welche sie an ihren Zuhörern bemerkte.

„Verzeih mir, Eduard,“ wandte sie sich an ihren Mann, „Du weißt, wir sind über unsere Erinnerungen nicht Herr, weder über die freudigen noch über die andern.“ Die Augen waren ihr feucht geworden, sie stand auf, drückte einen Kuß auf Eduards Stirn und trat dann in den Gang hinaus, der hinter der Laube am Zaun entlang führte.

Mein Freund saß noch eine kleine Weile auf seinem Platz, sehr ernst und ein wenig verlegen. Dann erhob auch er sich und folgte ihr. Ich sah, daß er den Arm um ihre Schulter legte und mit ihr auf und ab ging. Sie sprachen leise miteinander.

Wir Zurückbleibenden hatten wohl sämmtlich das Gefühl, in die schöne Harmonie des Festes sei ein Mißklang gekommen, der sie wenigstens für den Augenblick störte und dessen Ursache sich uns verbarg. Nach längerem Schweigen versuchten wir ein Gespräch einzuleiten, das die Tagesereignisse zum Gegenstand nahm, brachten es aber nur zu kurzen Bemerkungen. Das Fräulein begann den Tisch abzuräumen, die verheirathete Schwester half. Der Studiosus forderte seinen Schwager und mich zu einem Gang durch die Stadt auf. Jener war gleich bereit. Ich hatte das Bedürfniß, nach diesen mit neuen Eindrücken übersättigten Stunden ein wenig auszuruhen, und bat, mich zu entschuldigen. So blieb ich allein zurück.

Den Kopf an einen Eckpfosten gelehnt, sann ich mit geschlossenen Augen über den räthselhaften Vorgang nach, der eben sich abgespielt hatte. Nur wenige Minuten mochte ich so in mich versunken gewesen sein, als ich durch ein Geräusch aufgeschreckt wurde. Ich sah Frau Cilli am Eingang der Laube. Sie war offenbar rasch eingetreten, hatte sich indessen schon wieder abgekehrt, um fortzuschleichen.

„Darf ich Sie bitten, zu bleiben, beste Frau Professor?“ rief ich ihr nach, „Sie stören nicht.“

„Ich habe aber schon gestört,“ antwortete sie, sich umwendend. „Es thut mir leid, allein ich vermuthete nicht …“

„Sie sehen, ich bin ganz munter,“ beruhigte ich sie. „Wo ist Eduard?“

„Ich habe ihn in sein Zimmer geschickt,“ sagte sie lächelnd, „damit er sich in seiner Art eine Erholung schafft.“

„In seiner Art? Er wird sich doch wie andere Menschen in diesem Fall aufs Sofa legen und ein Stündchen verschlafen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Das würde ihn nur noch mehr ermüden. Nein, er muß ein wenig arbeiten, mindestens in einem Buche lesen, das seine Gedanken ablenkt und an anderer Stelle fesselt. Ich kenne ihn. Er ist durch die Gesellschaft leicht angeregt und dann voll Empfänglichkeit für ihre erheiternden Wirkungen. Aber sie darf ihn nicht zu lange zerstreuen wollen. Ich weiß, daß er sich vor diesem Tage im stillen nicht wenig gefürchtet hat – aus keinem anderen Grunde, als weil er dachte, vom frühen Morgen bis zum späten Abend Jubilar sein zu müssen. Nun konnte ich ihm gar keinen größeren Gefallen erweisen, als daß ich ihn selbst dazu drängte, den Schlafrock anzuziehen und sich an den Schreibtisch zu setzen. Sie sollen einmal sehen, wie munter und frisch er hinterher wieder sein wird. Er wollte sich freilich von mir nicht trennen, am Tage unserer silbernen Hochzeit, – wie schickt sich das! So sagte ich ihm denn, daß ich durchaus mit Ihnen noch ein bißchen ungestört plaudern möchte, und da fügte er sich.“

Natürlich sprach ich meine Freude über diese unverhoffte Gunst aus. Aber wie sehr ich mich auch bemühte, die Plauderei wirklich in Gang zu bringen, jeder Anlauf mißglückte. Frau Cilli war offenbar unaufmerksam und zerstreut, ich selbst innerlich noch zu sehr mit den Gedanken beschäftigt, in welchen sie mich vorhin unterbrochen hatte. Ob sie in Wahrheit nur „ein bißchen ungestört plaudern“ oder mich über ihre Erregung von vorhin aufklären wollte?

Während ich unwillkürlich diese Frage zu entscheiden suchte, mußte ich wohl die Freundin mit recht forschenden Blicken angesehen haben. Denn auf einmal brach sie kurz ab und sagte:

„Es ist unmöglich, Sie über meine Bewegung wegzutäuschen, ich lese es in Ihren Augen; Sie ahnen, daß mein Kommen halb eine bestimmte Absicht hat und im Zusammenhang steht mit den Worten, die mir vorhin vielleicht sehr unbedacht entschlüpften. Sie sind meines Mannes ältester Freund, und ich glaube, auch für mich selbst ein wenig Ihre Theilnahme und Liebe gewonnen zu haben. Darf ich da nicht, um mein Gemüth zu erleichtern, zu Ihnen flüchten und am heutigen Tage Ihnen gleichsam eine Beichte ablegen? Wollen Sie mich gütig anhören?“

„Ich merkte wohl, daß es sich für Sie um ein außerordentliches Geheimniß handelte,“ versuchte ich im heitersten Ton zu entgegnen, um ihr die Eröffnung zu erleichtern. „Ich bin ganz Ohr, verehrteste Freundin. Was Sie zu beichten haben werden –“

„Wer weiß,“ fiel sie ein. indem sie mit einer nervösen Bewegung das lockige Haar von der Schläfe fortstrich, „wer weiß, ob Sie mich absolvieren werden. Fast hätte ich’s vorhin ausgesprochen, wie so wenig gefehlt habe, daß Eduard und ich diesen schönen Tag nie erlebten. Er erscheint Ihnen doch als ein schöner Tag? Und allen den andern auch, die ihn mit uns feierten, und uns selbst … ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich ich bin, daß ich Eduard glücklich weiß. Ich darf’s doch? Das ist eben die Frage, die mich beschwert. Ich habe vielleicht ein großes Unrecht gegen ihn begangen. Vielleicht! Vielleicht auch nicht, und ich hoffe … aber diese Hoffnung kann wieder ein selbstsüchtiges Gefühl sein. Sie sollen entscheiden.“

„Es ist Ihnen bekannt,“ fuhr sie nach kurzem Nachsinnen fort, „daß Eduard Student war, als er sich mit mir verlobte. Daß er es that, war nicht das Ergebniß einer leidenschaftlich erregten Stunde. Wir hatten einander schon lange still im Herzen getragen und wohl auch durch Zeichen, die in solchem Fall beiden Theilen untrüglich scheinen mögen, zu verstehen gegeben, daß wir in unsern Empfindungen übereinstimmten. Eduard bat schriftlich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1891). Leipzig: Ernst Keil's Nachfolger, 1891, Seite 424. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_424.jpg&oldid=- (Version vom 29.8.2023)