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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

„Du hast recht,“ meinte er vergnügt, „Clairon wird schon kommen. So bist auch Du entschlossen, ihn zu nehmen? Hast Du übrigens auch bedacht, daß die Schwierigkeiten in gleichem Maße wie damals fortbestehen?“

„Gewiß! Clairon muß den Dienst quittieren und Römpkerhof mit bewirthschaften.“

„Aber nein,“ rief Römpker glücklich, „Du bist doch so recht mein Kind und denkst immer dasselbe! Dieser Ausweg erschien auch mir als der einfachste. Er nimmt später mal das Gut und nennt sich ‚Clairon und von Römpker.‘“

„Das ist zu reizend,“ jubelte Lea, „genau so, wie ich mir’s ausmalte.“

Herr von Römpker ging davon. Ja, wohl hatte er sich’s genau so ausgemalt wie Lea, nämlich folgendermaßen: eine Hypothek nehme ich nicht auf, Clairon muß quittieren, dann fällt der Vermögensnachweis fort, das junge Paar wohnt hier, für sein Taschengeld hat Clairon die kleine Erbschaft von seiner Mutter, Lea bekommt von mir eins, etwas höher als ihr jetziges, vielleicht giebt der ältere Clairon, der Majoratsherr, auch etwas dazu und im übrigen muß sich das junge Paar eben nach der Decke strecken. Wir können nicht alle Millionäre sein, das ist mal so in der Welt. Und vielleicht ist Clairon tüchtig in der Wirthschaft, er schlägt mehr heraus als ich, und ich brauche mir trotz des Familienzuwachses keine Einschränkungen aufzuerlegen. Und wenn’s Lea ein bißchen sauer fällt, daß ihr Leben nicht fürstlich wird, wie sie wohl dachte und wie sie’s auch fordern konnte, na, da muß sie sich eben gestehen, daß sie selbst die Karre so verfahren hat. Wozu brauchte sie noch mit dem einen zu liebeln, wenn sie doch den andern heirathen wollte? Das war unvorsichtig, sehr unvorsichtig! Und Rahel, diese eckige, sonderbare Person, hing das dann gar an die große Glocke! Was die Töchter eingebrockt hatten, mußten sie wohl oder übel ausessen.

Er schrieb an Raimar, daß er seine Tochter heute oder morgen abholen werde und daß Rahel ein Gänschen sei; kein verständiger Mensch nehme gleich jedes Wort so buchstäblich. Aber er wolle weiter nicht böse mit Rahel sein. Er begreife auch, daß sie aus idealen Beweggründen so gehandelt habe, allein auch sie werde wohl inzwischen eingesehen haben, daß die Welt bald einem Narrenhaus oder einem Kampfplatz gleichen würde, wenn die Menschen sich gegenseitig stets die Wahrheit an den Kopf werfen wollten.

Als der Bote nach Kohlhütte abgeritten war, frühstückte Römpker sehr behaglich.

Seine Frau erschien mit erloschenen Augen und vergrämten Mienen, das Unglück hatte sie zu tief gebeugt. Sie hatte nur die einzige Sehnsucht, mit Fräulein Malchen sich auszusprechen.

Ihre Stimme bebte, als sie um Erlaubniß bat, Malchen holen lassen zu dürfen.

„Ach, was soll die alte Schachtel immer hier,“ meinte Herr von Römpker, „sie schwatzt doch nur aus dem Hause. In ihrem Strickbeutel trägt sie die Neuigkeiten fort. Mir wird immer ganz übel, wenn ich diese Carrés von Glasperlen und schwarzer Wolle sehe mit dem lila Seidenbeutel daran.“

„Malchen klatscht nicht,“ erwiderte Frau von Römpker gekränkt. „So soll mir der einzige Trost versagt sein, an dieser treuen Brust zu weinen?“

„Aber warum willst Du das Weinen denn nicht allein besorgen.“

„Du kannst noch frivol sein, nachdem das Schicksal uns so gestraft hat!“ klagte sie und schluchzte vor sich hin.

Lea kam geräuschvoll, ihr Schritt klang fest, die Seide ihres orientalischen Morgenkleides knisterte.

„Kein Brief für mich?“

„Noch nicht.“

Und der Morgen rückte vor. Bis elf Uhr hielt ihn Lea erträglich aus. Dann erfaßte eine qualvolle Ungeduld ihr ganzes Wesen.

Wenn er gestern abend oder heute morgen gleich geschrieben hätte, müßte sie schon längst seinen Brief haben.

Aber vielleicht hatte sein Bursche denselben fahrlässigerweise gar nicht besorgt und Clairon, vom Dienst nach Hause kommend, fand ihn noch vor.

Dann würde er wettern und auf jagendem Roß jemand senden.

Ja gewiß, so war es. Dann konnte es halb eins oder gar eins werden, denn die Felddienstübungen waren erst gegen zwölf Uhr zu Ende.

Lea hatte einen rettenden Einfall, rettend insofern, als er ihre Ungeduld beschäftigte. Sie zog ein wetterfestes Kleid, einen Regenmantel und Gummischuhe an und lief durch den Park, am Seeweg unter den Erlen dahin, bis sie an das freie Feld kam. Dort watete sie im schlammerweichten Boden weiter, daß die Erdspuren dick an ihren Füßen kleben blieben. Der Regen prasselte auf die Seide des Schirms über ihr und an jeder Schirmrippenspitze bildete sich eine rinnende Traufe.

Endlich hörte der Regen auf. Eine Schar von Raben flog über die Stoppelfelder links und ließ sich nieder.

Rechts von ihr grenzte ein noch ungemähtes Weizenfeld an den Pfad. Das Getreide lag schwer vom Regen niedergestrichen, bei jedem Schritt rauschte es Lea gegen die Füße.

Das Gelände hob sich sanft vom See her und fiel gegen die Stadt zu wieder ab. So entstand eine Wegeshöhe, die, so gering sie auch war, doch gestattete, die beiden Chausseen zu übersehen, welche sich von rechts und links der Stadt näherten.

Lea stand wie eine Statue. Der Wind hob die Enden ihres Gazeschleiers, den sie unter dem Kinn verknotet trug, und spielte damit vor ihrem Gesicht. Das hinderte den freien Blick und sie mußte die flatternden Zipfel mit der Hand auf die Brust niederhalten.

Ihr Hoffen erfüllte sich. Fern und klein erschienen auf der Chaussee von links die Husaren, die im Schritt daherzogen. Sie sahen aus wie lauter Zinnsoldaten, so winzig und so gleichmäßig.

Dicht vor der Stadt fingen ihre Trompeter an zu blasen; der Wind trug einige schwache Laute herüber.

Da wandte sich Lea um, und während sie heimging und sich dann trocken anzog, war ihre Seele gleichsam abwesend. Jetzt ritten sie in die Vorstadtstraße. Jetzt schwenkten die Züge ab. Jetzt hielt Clairon vor seiner Wohnung. Ehrhausen, der nebenan wohnte, sprach vielleicht noch mit ihm. Dafür gab Lea fünf Minuten zu. Dann trat er ein und fragte: ist kein Brief da? Nein. Wie, ist keine Antwort von Römpkerhof gekommen? Keine Antwort? War es zu glauben? Da lag ja noch sein Brief. Verwünscht – und das Pferd war schon weggeführt. Schnell in den Stall und den Fuchs gesattelt. Der Bursche lief nach dem Stall, welcher sich einige Häuser weiter im Hof eines ländlichen Gasthauses befand. Das dauerte wieder einige Minuten. Und gewiß schwatzte er unnütz mit dem Burschen von Ehrhausen, der die Pferde im selben Stall hatte. Aber nun ritt er. Endlich, endlich! Lea sah ihn näher kommen, Meilenstein um Meilenstein.

Sie stand am Fenster der vorderen Wohnräume, um ihn gleich durch die Parkpforte einreiten zu sehen.

Es schlug zwei Uhr. Alle Verzögerungen, die Lea nach und nach um zahlreiche vermehrt und deren mögliche Dauer sie um reichliche Minuten verlängert hatte – alle Verzögerungen gerechnet, war die Zeit dennoch längst verronnen, in der sein Bote hätte hier sein können.

Ihre Wangen brannten, ihr Kopf ward heiß und schwer. Er schmerzte sie so, als bohrten sich ihr Nägel in die Augenhöhlen.

Aber noch ein neuer Hoffnungsgedanke kam ihr.

Er wollte am Ende selbst herausreiten. Er fand ein geschriebenes Wort in dieser Stunde zu kalt und leer. Und er, immer doch ein Sklave seines Dienstes, konnte nicht vor dem Nachmittag.

Aber welche dienstlichen Verpflichtungen ließen sich denn nicht abstreifen? Ein Freundeswort an seinen Rittmeister und er wurde von allen Pflichten frei für heute.

Doch Ehrhausen oder ein Sekondelieutenant von der Schwadron konnte krank oder der Brigadekommandeur angelangt sein.

Er mußte ja schreiben, er mußte! Er konnte sie doch nicht so vergehen lassen in Verzweiflung und Ungewißheit.

Schon wagte sie nicht mehr, ihren Vater anzusehen, schon mied dieser ihren Blick.

Unheimliches Schweigen lag auf dem ganzen Hause.

Im Wohnzimmer, parkwärts, saßen Frau von Römpker und Fräulein Malchen. Fräulein Malchen strickte und ihre Alide nähte an dem Flickenteppich und beide tranken Thee und flüsterten immerfort zusammen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 412. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_412.jpg&oldid=- (Version vom 28.8.2023)