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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Der Kampf war zu Ende. Die Ehre hatte in ihm gesiegt.

Clairon machte Licht, seine Hände bebten nicht. Er setzte sich an den Tisch und schrieb:

„Lea, ich muß Dir für immer Lebewohl sagen. Ich erkenne an, daß auch ich schwer an Dir, an mir selbst und meiner Ehre gefrevelt habe, als ich darein willigte, Dich wieder und wieder zu sehen. Als Mann hätte ich Dich zwingen sollen, trotz all der vermeintlichen Hindernisse, welche nur in unserm Hochmuth solche waren, meine Braut zu werden oder mich zu lassen. So bin ich Dein Mitschuldiger, und die Strafe, welche mich heute trifft, trage ich zu Recht. Aber daß Du mich lieben und Dich zugleich einem andern als Gattin geben wolltest, macht Dich unwürdig des Namens einer Gräfin Clairon. Ich könnte und dürfte Dir nicht mehr mit ruhigem Bewußtsein die Ehre dieses Namens anvertrauen. Ich weiß es, ich thue Dir mit diesen Worten unaussprechlich weh. Aber der Tod ist wohl immer schmerzhaft, und von heute an soll und muß unsere Liebe todt sein und bleiben.

Robert, Graf von Clairon.“ 
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Lea wachte im Bett und hörte, wie vor ihrem Fenster die Spatzen laut waren und sich trotz des düstern Tages vergnüglich wichtig machten. An den Falten des Betthimmels hing ein grau-brauner Nachtschmetterling; er war lange wild und planlos umhergeflattert, vergebens nach einem Ausweg suchend. Dabei hatten seine Flügel den Sammetschmelz verloren. Jetzt saß er da, sich mit klammernden Beinchen an dem bunten Stoff haltend, und ab und zu ging ein Zittern durch seinen Leib, die müden Flügel klappten auf und legten sich wieder.

Alles war grau und glanzlos, das Stückchen Himmel über den Baumkronen regendunkel, die Lindenblätter wie von einer nassen Hand abwärts gestrichen, und in den grünen Wipfeln fleckte es da und dort schon gelb auf.

Lea hatte merkwürdigerweise im ganzen recht gut geschlafen, aber weil sie die eine oder andere Viertelstunde gewacht hatte, glaubte sie, kein Auge zugethan zu haben. Jetzt, nachdem sie lange auf das trübe Bild hinter den Fensterscheiben geblickt hatte, bildete sie sich ein, zu frieren, weil der Anblick von viel Nässe ihr die Vorstellung von Kälte erweckte.

Es mußte auch schon spät sein und sie wollte lieber aufstehen.

Sie hatte keineswegs das Gefühl, als habe sich etwas ganz Außergewöhnliches, Schicksalentscheidendes begeben. In ihrem Kopfe hatten sich bereits die Ereignisse des gestrigen Abends vollständig verarbeitet.

Von irgend einer andern Gestaltung der Zukunft konnte nun nicht mehr die Rede sein, die ganze Zukunft hieß fortan eben „Clairon“.

Dem Lüdinghausen mochte schändlich kläglich zu Muth sein. Der arme Mann konnte ihr beinahe leid thun – es ist keine Kleinigkeit, wenn einem die Braut so vor der Nase weggeschnappt wird und man noch obendrein erfährt, daß sie einen gar nicht geliebt hat. Das heißt, diese letztere Demüthigung gönnte sie seiner schulmeisterlichen Ueberhebung; im übrigen würde er sich wohl augenblicklich aus der Gegend entfernen. Man nimmt Urlaub, läßt sich versetzen – so etwas kann man ja einrichten.

Und was die Heirath mit Clairon betraf, so konnte Rahel auch die Kosten ihres unsinnigen Benehmens tragen.

Sie – Lea – hatte aus Familienrücksichten und auch aus besonderen Rücksichten auf die Schwester, wie ihr in diesem Augenblick wenigstens vorkam, keinen armen Mann heirathen wollen. Rahel hatte sie dazu gezwungen – nun wohl – mochte sie also an den Opfern mittragen, die erforderlich wurden.

Das anständigste Auskunftsmittel war natürlich, daß Clairon den Dienst quittierte. Dann fiel die Nothwendigkeit fort, das Kommißvermögen beizubringen. Clairon mußte Landwirth werden und Römpkerhof mit bewirthschaften. Er verstand es ohne Zweifel besser als der experimentiersüchtige Papa. Vielleicht zog Papa sich auch ganz zurück; von Mamas Rente konnten die Eltern sehr anständig leben in Berlin oder in irgend einer Pensionsstadt wie Wiesbaden oder dergleichen.

Clairon übernahm Römpkerhof und nannte sich später „von Clairon und Römpker“.

Rahel mußte dann eben bei den Eltern oder bei ihnen bleiben und auf ihren Antheil an Römpkerhof verzichten.

Sie war im ganzen ja ein verständiger Mensch und Lea wollte es ihr schon in allen Tonarten vorstellen, daß das ihre Pflicht sei. Für den ungeheuren Skandal, welchen sie der Schwester bereitet hatte, war sie ihr dies Opfer schuldig. Sie würde es auch bringen – zweifellos. Denn Rahel war doch eigentlich eine selbstlose Seele, das mußte man ihr lassen. Na, irgend einen Vorzug hat schließlich jeder Mensch und derjenige der Unbedeutenden ist meistens die Selbstlosigkeit.

So sah Lea ihre Zukunft fertig vor sich, freilich ein bißchen magerer, als sie sich’s gewünscht hatte, aber man blieb wenigstens vornehm, sehr vornehm. Lea beschloß, als Gräfin Clairon sich von dem größten Theil der hiesigen Gesellschaft unter dem Vorwande des Hochmuthes zurückzuziehen. Dann sparte man und konnte es vielleicht ermöglichen, jeden Winter zur Saison nach Berlin an den Hof zu gehen. Der gute Papa mußte eben auch lernen, sich ein bißchen einzurichten.

Sie stand auf und ging in ihr Toilettenzimmer, wo sie zu ihrem Erstaunen Rahels Tisch unbenutzt stehen sah. Sie horchte, – alles still nebenan. Nun, Rahel hatte wohl ebenfalls die Nacht durchwacht und schlief jetzt.

Es klopfte. Lea schrak zusammen. Freudige Röthe stieg ihr in das Gesicht. Natürlich schon eine Botschaft von Robert; er fühlte wohl, daß man noch heute die Verlobung anzeigen müsse. Sie lief in ihren Pantoffeln an die Thür; ihr reiches Haar umwallte sie aufgelöst, und ein Frisiermantel, von Spitzen umrandet, hüllte ihre Gestalt ein. Sie öffnete ohne Besinnen.

Herr von Römpker stand vor ihr, er hielt einen offenen Brief in der Hand und sah sehr ärgerlich aus.

„Nun?“ fragte Lea.

„Uns solche Geschichten zu machen! Dem einen Skandal den zweiten hinzuzufügen!“ rief er.

Lea empfand einen kurzen, eisigen Schreck.

„Was ist?“ stammelte sie.

„Rahel ist auf und davon. Einfach weggegangen und zu Raimar,“ sagte er.

„Ach, weiter nichts?“ rief Lea und die Farbe kam langsam in ihr Gesicht zurück. Aber ihr war doch so elend geworden, daß sie sich auf den nächsten Stuhl setzte.

„Raimar schreibt mir: ‚Deine Rahel kam gestern abend spät durchnäßt und weinend hier an. Ihr habt dem armen Kinde wohl schöne Dinge zu hören gegeben. Einstweilen behalte ich sie hier, bis ich weiß, daß sie, ohne Gefahr, neuen Kränkungen zu begegnen, heimkehren kann. Wenn Du willst, magst Du sie Dir dann holen. Gieb Nachrichten Deinem Raimar.‘“ Und Herr von Römpker fügte hinzu: „Es ist beinahe komisch. Was haben wir ihr denn gethan?“

Lea und ihr Vater sahen sich an und besannen sich.

„Ach ja,“ meinte Lea, „mir ist, als ob wir ein bißchen heftig gewesen wären. Aber wer legt denn in solcher Stimmung die Worte auf die Goldwage? Und sie hatte ja die Schuld, sie hat uns in der unglaublichsten Weise wie Schachfiguren ihres Willens behandelt.“

„Was soll ich aber antworten?“

„Sieh mal nach, vielleicht hat sie etwas hinterlassen!“

Herr von Römpker ging in Rahels Zimmer. Da lag ein Brief unter der Lampe vor dem Pfeilerspiegel, und darin stand:

„Liebe Eltern, da Lea meines Anblicks für einige Tage überhoben zu sein wünscht, gehe ich nach Kohlhütte. Wenn Ihr und wenn Lea wirklich empfindet, daß ich recht für Euch gehandelt habe, so ruft zurück Eure betrübte Tochter

Rahel!“ 

Herr von Römpker gab Lea den Brief und lachte.

„Es scheint wirklich, daß eine kleine Schraube bei ihr los ist,“ sagte er.

„Antworte, daß Du Rahel herüberholen werdest, sobald wir Nachrichten von Clairon hätten!“

Vater und Tochter sahen sich tief an, als wollte jeder lesen, was für Gedanken dem andern im geheimsten Innern wohnten.

„Du fürchtest …“ begann er.

„O, nichts!“ sagte Lea, stolz den Kopf erhebend.

Wie sie schön war, in ihren weißen, reichen Gewändern und mit dem prachtvollen Haar, die feine Haut blühend in Morgenfrische! Nein, ein solches Mädchen läßt man nicht, dachte der Vater.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 411. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_411.jpg&oldid=- (Version vom 28.8.2023)