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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

den Kopf der Sitzenden an sich, ihn mit den Händen umschließend. Doch war mehr Trotz als schutzsuchende Zärtlichkeit in ihrer Haltung. Ihre großen Augen hingen an Clairon, der schweigend auf und ab ging.

Römpkers bange Aufmerksamkeit war hingegen ganz auf Lüdinghausen gerichtet, der stolz aufgerichtet am Tische stand. Kaum verklang des Rittmeisters Stimme, so sprach Lüdinghausen:

„Ich darf um eine Erklärung dieses Vorfalls bitten!“

Er sagte es langsam, seine Stimme klang sehr kühl. Ein feindseliger Hochmuth schien aus seinen Zügen zu reden, er sah Herrn von Römpker mit einem Blick an, vor dessen Kälte dieser zitterte.

„Vor allem ich,“ fiel Clairon ein, „wünsche die Geschichte dieser Verlobungsanzeige zu erfahren; welches Interesse der Herr Landrath daran hat, ist mir nicht erfindlich.“

„Aber meine Herren,“ sagte Römpker, hilflos von einem zum andern sehend, „wollen Sie mir nicht gestatten, mit jedem von Ihnen lieber unter vier Augen zu sprechen? Ich bitte Sie, Herr Landrath, doch mich und Lea den tollen Einfall meiner jüngsten Tochter nicht entgelten zu lassen.“

Clairons Schritt stockte, er sah mit einem Ausdruck zu Lea hinüber, der sein beginnendes Verständniß verrieth. Wären doch wenigstens unter der Gewalt dieses Blickes die guten Geister in Leas Seele wach geworden! Aber sie war auch in diesem Augenblick noch ganz verblendet. Die Grausamkeit des Weibes war in ihr wach geworden, sie freute sich der Demüthigung, welche Lüdinghausen, dieser ernsthafte, feierliche und hochmüthige Mann, gleich erdulden sollte und schon erduldet hatte. In einer seltsamen Verirrung kam es ihr plötzlich vor, als sei er an allem schuld. Anstatt sich zu retten und vielleicht zu reinigen durch ein muthvolles Bekenntniß, schwieg sie.

„Ich,“ entgegnete Clairon mit dem Versuch, in seiner Stimme ruhige Festigkeit zu bewahren, „ich wüßte nicht, was für diskrete Dinge denn vorlägen, die eine Besprechung unter vier Augen nöthig machen könnten. Ich habe vor Monaten um Leas Hand geworben, mag denn auch der Herr Landrath es wissen; wenn ich bis heute noch nicht die Hoffnung aufgab, Lea zu erringen, so kam mir doch die Erfüllung in dieser Form und von Rahels Lippen zu unerwartet, als daß ich sie frohen Herzens hinnehmen könnte.“

Lüdinghausen wußte ganz deutlich, daß in dieser Lage alle Nachtheile auf seiner Seite waren. Seine Fassung hatte ihn keinen Augenblick verlassen. Wohl fühlte er, daß etwas Unlauteres vorgegangen war, zu dessen Opfer man ihn hatte machen wollen, aber noch verstand er den Zusammenhang nicht ganz. Er empfand nur, daß er in Gefahr kommen könne, eine klägliche Rolle zu spielen. Merkwürdigerweise jedoch zweifelte er keine Sekunde lang, daß Rahel ehrlich gehandelt habe, so rücksichtslos ehrlich, wie es nur die Verzweiflung tut, um ein schweres Unrecht zu verhüten. Dies blinde Vertrauen zu dem Mädchen, im Verein mit der besonnenen Beurtheilung seiner Lage, rettete ihn davor, in die Jämmerlichkeit des Getäuschten zu verfallen.

Als Clairon von seiner Werbung um Lea und von den Hoffnungen sprach, die er immer noch nicht aufgegeben habe, kam ein Schein von Leben in Lüdinghausens gleichsam versteinertes Gesicht. Mit der vollendetsten Höflichkeit und einer Ruhe, als handle es sich nicht um den Besitz eines Weibes, sondern etwa um den Vortritt in einer Gesellschaft, sagte er:

„Ich habe keine Ahnung von unserer Nebenbuhlerschaft gehabt, Herr Graf. Selbstverständlich gebe ich unter diesen Umständen dem gnädigen Fräulein das gestern abend erhaltene Jawort zurück und bitte sie, sich nochmals frei zu entscheiden.“

Clairon stieß einen Schrei aus. Er hatte nicht die eisige Fassung des andern. Er hatte geliebt, mit tausend Schmerzen, heißer Leidenschaft und immer neu getäuschter Hoffnung.

„Lea,“ schrie er, „das hast Du gethan? Mir angethan? Mir, den Du liebst? O, ich glaubte, Du spieltest nur mit solchen Gedanken. Du konntest sie zur Wahrheit machen – zur Wahrheit?“

Er schlug beide Hände vor sein Angesicht und stand mit abgewandtem Haupt fassungslos da.

Als Lüdinghausen seine höfliche Redensart vorgebracht hatte – o, Herr von Römpker verstand nur zu gut, daß es ein Abschied war – verbeugte er sich und zog sich zurück. Er wollte nichts mehr hören und wollte dies recht deutlich zeigen. Doch er konnte nicht verhüten, daß Clairons Worte noch sein Ohr erreichten und ihm die ganze Wahrheit verriethen.

Seine Füße waren ihm schwer, sein Athem kurz. Aber er ging aufrecht und mit herbem Angesicht davon und hielt sein Haupt für zu stolz, um es unter einem Schlag zu beugen, den niedere Berechnung gegen ihn geführt hatte.

„Meinen Wagen!“ sagte er kurz zu dem auf dem Flure herumlungernden Ludwig, der vor Neugier umkam, aber fürs Horchen doch zu anständig war. Ludwig, entsetzt vor diesem harten Gesicht, flog davon.

Lüdinghausen ging mit wuchtigen Schritten eine Weile auf und ab. Raimar, der sich mit Rittmeisters im ersten, an den Flur grenzenden Zimmer aufgehalten hatte, mochte das gehört haben. Er kam heraus und that angesichts dieser blassen Züge, dieser ehernen Stirn und dieser stolz geschlossenen Lippen keine Frage.

„Ich fahre mit Ihnen,“ sagte er einfach und sehr entschieden, „ich nehme Sie mit nach Kohlhütte. Mein Wagen kann leer nachkommen. Sie müssen mir noch Gesellschaft leisten.“

Lüdinghausen streckte ihm die Hand hin und umschloß die des Freundes mit festem Griff. –

In dem Zimmer, in welchem sich die Familie Römpker und Clairon befanden, herrschte eine Weile brütendes Schweigen. Herr von Römpker fühlte sich so elend wie noch nie in seinem Leben und er war unaussprechlich böse auf Lea. Er redete sich in der Geschwindigkeit ein, von dem Doppelspiel Leas keine Ahnung gehabt zu haben, denn sonst würde er doch niemals diese Verlobung mit Lüdinghausen gestattet haben.

Ein dumpfes Vorgefühl kam über ihn, daß hier für Lea sehr viel auf dem Spiel stehe. Der Angstschweiß perlte auf seiner Stirn. Wenn nun auch Clairon im Zorn davonging? Der Skandal! Und Lea sitzen geblieben! Natürlich war’s dann für immer aus und sie konnte ihre Tage im Elternhaus beschließen. An die vielen Schwierigkeiten, an die ewigen üblen Launen Leas nur zu denken, war schon entsetzlich.

„Mein lieber Clairon,“ begann er mit seinen liebevollsten Tönen, „daß Lea Sie noch immer liebt, war mir fremd. Warum hat das arme liebe Mädchen sich mir nicht vertrauensvoll geoffenbart? Ich hätte sie dann nicht beredet, Lüdinghausen zu nehmen. Man hätte schließlich zugesehen, ob man Sie beide nicht vereinigen könnte. Eltern scheuen ja zuletzt kein Opfer, wenn es sich um das Glück ihrer Kinder handelt. Aber unsere Lea wollte kein Opfer nehmen, sondern in ihrem Edelmuth lieber eines bringen.“

Herrn von Römpkers Stimme brach vor Rührung. Während er die Ereignisse so gruppierte, glaubte er auch schon, daß sie gerade so verlaufen wären, wie er erzählte.

„Meine Lea!“ rief er und eilte mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.

Sie ließ sich von ihm umarmen und küssen, aber ihr Schweigen löste sich nicht.

Frau von Römpker hatte hoch aufgehorcht und fing nun mit dem Ausruf: „Mein armes, selbstloses Kind!“ heftiger an zu weinen.

Clairon richtete sich auf. Er wandte sein Gesicht Lea zu. Als er ihrem großen, starren Blick begegnete, brach seine Fassung nochmals. Er sank auf die Kniee neben ihr und barg sein Gesicht in ihren Kleiderfalten.

„Ich habe Dich so maßlos geliebt,“ murmelte er.

Da ging ein Zittern durch Leas bisher unbewegliche Gestalt, sie neigte ihr Haupt tief, tief, daß ihre Stirn in Clairons Haar tauchte, und flüsterte:

„Robert! Vergieb mir!“

Er sammelte sich, stand auf und legte seine Hand über die Augen. Dann seufzte er schwer und sah sich wie traumverloren um.

Athemlos hingen sie an seinen Lippen und warteten auf ein Wort, ein gutes, versöhnendes Wort der Rettung.

Endlich sprach er leise:

„Es ist wohl am besten, ich gehe jetzt. Ich bedarf der Sammlung, Lea. – Gute – Nacht!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 374. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_374.jpg&oldid=- (Version vom 24.8.2023)