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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Und nun obendrein derartige Reden aus dem Munde der nüchternen Rahel!

Aber diese schroffe Abweisung hatte eine sehr unerwartete Wirkung. Anstatt, wie es ihr sonst wohl eigen war, in gekränktem Stolz oder mit einem letzten ruhig entschiedenen Tadelswort sich still zurückzuziehen, richtete Rahel sich auf, trat von der Schwester zurück und sagte:

„Wenn Du meine schwesterliche Liebe und Theilnahme in dieser Stunde als überspannt empfindest, will ich sie Dir nicht aufdrängen. Aber ich frage Dich noch einmal, ob zwischen Dir und Clairon längst alles aus ist und ob Du mit einem ehrlichen Gewissen Deine Hand dem andern geben kannst?“

Lea zitterte. Sie dachte daran, daß Clairon morgen kommen und daß man sie in seiner Gegenwart als Braut des andern feiern würde. Litt sie nicht schon genug? Mußte die Schwester mit ihrer unzarten Hand auch noch an diese Wunden fassen? Schmerz und Trotz verführten sie, zu erwidern:

„Mische Dich doch nicht in Dinge, die Dich nichts angehen!“

„Es geht mich wohl sehr viel an,“ rief Rahel schmerzlich, „wenn ich die Meinigen unehrlich handeln sehe. Ja es ist die Pflicht des Klarblickenden, die Verblendeten zu retten. Du und Papa, Ihr werdet mir dafür danken, wenn Ihr zur Besinnung gekommen seid. Ich werde es nicht zugeben, daß Du Lüdinghausen heirathest, wenn Du Clairon noch liebst. Das ist Deiner unwürdig. Du befleckst Deine Frauen- und Deine Familienehre. Und wenn Du das nicht begreifst und Papa das nicht fühlt, so bin ich da, für Euch zu wachen.“

Lea war sprachlos vor Schreck. So viel „hellen Wahnsinn“ hatte sie ihrer Schwester gar nicht zugetraut. Rahel nahm ja einen geradezu drohenden Ton an. Welche Wandlungen konnten denn in ihr vorgegangen sein, daß sie es wagte, so gegen ihre Schwester aufzutreten?

Endlich fand sie ihren halb nachsichtigen, halb überlegenen Ton gegen die Schwester wieder:

„Du erregst Dich völlig unnütz,“ sagte sie, „zwischen Clairon und mir ist alles aus. Ich habe das überwunden und denke, noch einmal sehr glücklich mit Lüdinghausen zu werden.“

„Er verdient es! Er verdient es!“ rief Rahel. Sie war augenblicklich erweicht und glaubte der Schwester.

Zu Leas Erleichterung dröhnte jetzt ein Donnerschlag durch die Nacht und riß Rahel aus ihrer Rührung. In den Parkbäumen rauschte der schnell einherfegende Wind.

Die Schwestern horchten hinaus und beriethen, ob sie wieder hinuntergehen oder ihr Bett aufsuchen sollten. Indessen begann ein heftiger Regen und der nächste Donner klang schon ferner; so gingen sie zu Bett.

Rahel lag fast die ganze Nacht wachend. Sie war von heißen Wünschen bewegt für das Glück ihrer Schwester, und gerade so zuversichtlich, wie sie einst von Clairon gedacht: er wird sie leiten, gerade so vertrauensvoll glaubte sie nun: Lüdinghausen ist der beste Gatte für sie. Alles, was sich begab, wandte sie in ihrem Kopf so lange hin und her, bis sie eine heilbringende Seite für ihre Schwester daran entdeckte. Sie dankte Gott, daß Lea Clairon nicht mehr liebe. Denn das fühlte sie merkwürdig fest und klar in sich: sie – Rahel – würde es niemals zugegeben haben, daß Lüdinghausen das Opfer einer Lüge werde, und daß Lea sich mit einer Lüge beflecke.

Wie sie das hätte verhindern wollen, darüber dachte sie jetzt nicht nach: das Geschick hatte ihr ja alle weiteren Kämpfe erspart.

Sie lächelte in wehmüthiger Freude. Es war auch nur zu natürlich, daß Lea den Grafen über ihm vergessen, und ebenso natürlich, daß er sich in ihre schöne, geistvolle, herrliche Lea verliebt hatte!

Und dann fiel ihr ein, daß man die Feierstunden des nächsten Tages doch nicht entweihen sollte durch eine lärmende Gesellschaft. Sie wollte es schon durchsetzen, daß nur Raimar geholt werde. Und geschäftig dachte sie sich aus, daß sie morgen recht früh aufstehen müsse, um Lea einen Rosenstrauß an ihr Bett zu bringen. Dazu rauschte der Regen andauernd auf die Blätterfülle der Linden vor dem Fenster nieder, eintönig, immerzu, immerzu, bis er mit seinem raunenden Geräusch das Mädchen einschläferte. – –

Am nächsten Morgen war das ganze Schloß in ersichtlicher Aufregung. Jeder wußte, daß Fräulein Lea sich heute verloben werde. Die Dienerschaft rieth einstimmig bis auf Ludwig, daß der Landrath der Bräutigam sei. Ludwig, der im Morgengrauen den Brief an den Lieutenant besorgt hatte, glaubte es besser zu wissen und lächelte hochmüthig zu dem Gerede der anderen, das er mit geheimnißvollen Andeutungen bestritt.

Frau von Römpker weinte viel und brach fast zusammen unter der Vorstellung von all den schwierigen Pflichten, welche ihrer nun als Brautmutter harrten. Herr von Römpker war seelenvergnügt. Er brannte vor Begierde nach dem alten Lüdinghausen, den der junge telegraphisch herbeirufen wollte, malte sich die dicke Freundschaft aus, die ihn mit jenem verbinden würde, sprach davon, nach Schlesien zu reisen, und sah die Lüdinghausenschen Besitzungen schon als sein Miteigenthum an. Er würde zur Jagd hinreisen und man müßte freundschaftlich vereinbaren, wann man sich auf Römpkerhof, wann in Schlesien vergnügen wollte.

Rahel hatte den Papa bestimmt, die Gesellschaft aufzuschieben, bis der alte Lüdinghausen angekommen sei; aber Onkel Raimar war durch einen reitenden Boten für den Abend gebeten. Rahel hatte rothe Wangen und leuchtende Augen und lief im ganzen Schloß geschäftig umher. Alles mußte imstande sein, alle Vorräthe mußten ergänzt, der Plan für die Verlobungsfeier genau durchgesprochen werden.

Lea war erschreckend bleich und saß thatenlos am Fenster, in den Regentag hinausstarrend. Sie hatte schon in der Nacht vergebens gesonnen, wie sie Clairon von dem Geschehenen Kunde geben könne. Ludwig zu sprechen, konnte sie nicht wagen, denn Rahel war überall und nirgend. Und es war ihr doch eine seltsame Beklemmung im Herzen zurückgeblieben nach dem kräftigen Auftreten der Schwester. Eine stumpfe Ergebung hatte sich endlich ihrer bemächtigt.

„Es muß überstanden werden,“ sagte sie sich, „Clairon wird Haltung bewahren, das ist er mir und sich schuldig. Und besser, wir ertragen das gleich heute.“ –

Clairon war im Dienst, als Ludwig den Brief bei ihm abgab. Erst gegen Mittag kam er heim, durchnäßt bis auf die Haut, übermüdet und sehr verstimmt. Er hatte nur das rein körperliche Bedürfniß, sich trocken anzuziehen und zu schlafen. Leas Schriftzüge auf dem Briefumschlag erweckten ihm in diesem Augenblick Mißbehagen. Er kannte den Inhalt ihrer Zeilen im voraus. Ein ganzes Bündel solcher Briefe ruhte schon in seinem Schreibtisch; sie waren stets voll von leidenschaftlicher Reue nach heftigen Auftritten, wie sie einen solchen gestern vormittag wieder im Walde erlebt hatten.

Diese Liebe voll Unruhe, Zorn, Verlangen und Jammer rieb ihn auf. Sein ganzes Wesen neigte sich noch immer Lea zu, vielleicht sogar in erhöhter Leidenschaft, aber er sagte sich seit langer Zeit, daß es seine Mannespflicht sei, eine Entscheidung herbeizuführen. Leas Benehmen gegen Lüdinghausen erregte seinen grenzenlosen Zorn, er verzehrte sich vor Eifersucht und glaubte doch, daß er ihre Entschließungen nicht beeinflussen dürfe. Wenn er auch noch immer eine Heirath mit ihr als recht schwer zu erreichen und als eine viele Opfer fordernde Sache ansah, so gewöhnten sich seine Vorstellungen doch mehr und mehr daran. Er spielte bereits mit dem Gedanken, den Dienst aufzugeben und als Schwiegersohn mit auf Römpkerhof zu wohnen, was niemand auffallen würde, da Römpker keinen Sohn hatte.

Lea freilich fand das alles bis jetzt noch „pauvre“ und unter ihrer beider Würde. Aber Clairon war der Ueberzeugung, daß eine zeitweilige Trennung von ihm ihr erst recht die Gewalt ihrer Liebe klar machen werde, und wenn er hie und da doch wieder zweifelte, ob er sie je erringen könne, in seinem geheimsten Innern hielt er es für völlig unmöglich, daß sie mit Lüdinghausen Ernst machen werde.

So sah er dem Manöver mit Ungeduld entgegen. Er ließ sich lange Zeit, ehe er ihre Zeilen heute überflog, und diese beunruhigten ihn nicht besonders. Der hastige, leidenschaftliche Ton darin war ja überhaupt oft Leas Ton. Mochte Lüdinghausen denn mit seiner Werbung kommen. Dann hatten wenigstens diese Kämpfe ein Ende; die Lage war ohnehin schon verwickelt genug. Daß Lea, wenn sie sich auch tausendmal vorgenommen haben sollte,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 358. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_358.jpg&oldid=- (Version vom 23.8.2023)