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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Nr. 22.   1891.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Lea und Rahel.

Roman von Ida Boy-Ed.

(5. Fortsetzung.)

6.

Herr von Römpker theilte seiner Frau die Verlobung mit, Lea gönnte Rahel so nebenher ein Wort davon. Als die beiden Schwestern in ihrem gemeinsamen Zimmer noch beschäftigt waren, dachte Rahel traurig: „Ob sie mir wohl noch sagen wird, weshalb Papa sie rufen ließ?“

„Donnert es nicht?“ fragte Lea und trat an das Fenster.

„Ich habe nichts gehört.“

„Es wäre sehr unangenehm, wenn das Wetter morgen schlecht wäre.“

„Weshalb gerade morgen?“

Lea guckte mit Wichtigkeit in die schwarze Nacht hinaus, sah aber nichts als auf der blanken Fensterscheibe die Spiegelung ihres eigenen blassen Gesichts und die Gestalt der Schwester hinter sich im Zimmer.

„Vielleicht wird Papa auf morgen Gäste laden. Ich habe mich vorhin mit Lüdinghausen verlobt,“ sagte Lea.

Sie wagte doch nicht, sich unbefangen wieder umzudrehen. Aber da fühlte sie sich schon von zwei festen Händen an den Schultern erfaßt.

„So sind die Würfel gefallen? Schon jetzt? Bist Du glücklich? Liebst Du ihn? Begreifst Du die Größe Deines Glücks und Deiner Pflichten?“ fragte Rahel.

Lea sah sie ein wenig hochmüthig an.

„Du weißt recht gut, liebes Kind,“ sagte sie in einem weltweisen Ton, „daß dies zunächst eine Vernunftheirath ist. Aber ich leugne nicht, daß Lüdinghausens Persönlichkeit mir den Entschluß leicht gemacht hat und daß er mir sehr sympathisch ist.“

Rahel fiel ihr um den Hals. Ihre Thränen brachen hervor, sie konnte sich gar nicht fassen.

„So liebst Du Clairon nicht mehr? So war jene Leidenschaft nur eine täuschende Aufwallung? Und Du beginnst, den andern zu lieben? O, er verdient auch, daß neben ihm sein Weib keinen andern Gedanken hat. Vergieb mir, Lea, ich habe in letzter Zeit oft Zweifel an Dir gehegt, ich sah Deine einsamen Wege und dachte, Du treffest Clairon. Und ich sah, daß Du ihm entgegenkamst, und begriff meine Schwester nicht mehr. Vergieb mir! Sage mir, daß zwischen Dir und Clairon alles aus ist und daß Du eine glückliche Braut sein wirst.“

Lea war leichenblaß geworden. Ein böser Zug kam in ihr Gesicht.

„Sei doch nicht so dramatisch und so überspannt,“ sagte sie wie angewidert.

Allen Menschen, die selbst zum Ueberschwang in Ton und Gebärden neigen, ist solcher Ueberschwang bei andern lästig, vielleicht weil sie ihr Spiegelbild sehen, vielleicht weil sie selbst jenen Aufwand oft um nichtiger Ursache willen machen und daher aus eigener Erkenntniß jede Erregung für übertrieben oder gar für unecht halten.


Der Orgelmann.
Nach einer Zeichnung von A. Brunner.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 357. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_357.jpg&oldid=- (Version vom 22.8.2023)