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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Westfalen. Eingeschlossen war ein kleinerer an Herrn Leo Jussnitz, und darin stand weiter nichts als: „Komm zu uns, zu Antje und“ – der Kleinen hatte sie die Hand geführt – „Leonie!“




Fast zwei Jahre sind verflossen. Ueber den Harzbergen spannt sich ein tiefblauer Sommerhimmel aus, frisch und klar ist hier oben die Luft.

Die Hütte „Gottessegen“ hat sich verändert, neue Gebäude ragen überall aus dem Grün der Bäume hervor, die Arbeiterwohnungen sind zu einem stattlichen Dörfchen herangewachsen. Noch immer muß der Reisende zu Wagen oder zu Fuß diese Abgeschiedenheit aufsuchen, denn die Bahn saust unten durch die Thäler. Aber viele kommen doch durch die herrlichen Wälder hier herauf, „Gottessegen“ ist ein ganz bekannter Punkt geworden in der Welt.

Heute ist vor dem Oberroder Gasthause „Zur grünen Tanne“, in dem es so köstliche Forellen giebt wie nirgends weit und breit, auch ein stattlicher Herr abgestiegen, hat sich besagte schöne Fische auftragen lassen und erkundigt sich nun angelegentlich bei der Wirthin, einer stattlichen Fünfzigerin, nach allen möglichen Dingen hier oben herum. Er hat einen müden Zug im Gesicht; das blonde Haar und der Bart sind schon mit grauen Fäden durchzogen.

„Meinen Sie das große Haus? Das ist die Gießerei; das Herrenhaus sehen Sie, sobald Sie auf den Platz treten; das Musterzimmer befindet sich unter dem Atelier, welches nach dem Garten zu angebaut ist. – Was sagen Sie, mein Herr? Ach so! Die Villa am Berge drüben? Die gehört dem Theilhaber der Firma, Herrn Ferdinand Frey, und in dem Schweizerhäuschen jenseit des Baches wohnen Doktors.“

„So – Doktors? Wie heißen denn die?“

„Maiberg, mein Herr; seit einem halben Jahre sind sie hier. Sie hätten nur gestern kommen müssen, da hätten Sie alle unsere Herrschaften sehen können; der alte Kortmer feierte nämlich sein vierzigjähriges Dienstjubiläum auf der Hütte. Das war ein großes Fest, und sie haben alle mitgetanzt, keine aber mehr als unsere Frau, und zuletzt hat Herr Kortmer ein Hoch auf sie ausgebracht; das war zu schön! – Sie kennen wohl Frau Jussnitz, mein Herr – oder nicht? Dann verstehen Sie auch nicht, wenn ich Ihnen erzähle, wie jung und alt sie gern hat! Ja, das ist eine Frau, unsere Frau!“

Der Fremde bleibt noch ein Weilchen sitzen, bestellt sich ein Zimmer, dann geht er hinauf nach dem Herrenhause und fragt nach Herrn Leo Jussnitz. Er ist im Atelier und man führt ihn dort hin.

Es ist ein schöner Raum, mit künstlerischem Schmuck ausgestattet; aber nicht weichlich, alles deutet auf bewußte Zwecke, es ist ein Arbeitsraum. Der junge Besitzer steht vor dem Thonmodell einer weiblichen Figur, bestimmt für einen Monumentalbrunnen. Er sieht nicht mehr so keck soldatenhaft aus, seine Haltung ist ein wenig gebückt, die Farbe ein wenig bleich – Ueberbleibsel von seinem Siechthum – aber was das Antlitz an Frische verlor, hat es an Tiefe des Ausdrucks gewonnen.

Er mustert den Fremden einen Augenblick verwundert, dann ruft er freundlich: „Herr Gott, Barrenberg, Sie? Wo – wo in aller Welt kommen Sie her?“

„Ich sitze drunten in H…burg und werde doch die Gelegenheit nicht versäumen, einen alten Freund und – na, ich darf es ja sagen, denn es ist keine Schmeichelei – vielgenannten und bestbekannten Künstler wieder zu sehen! Glück zu, Jussnitz, Sie haben es gut getroffen!“

Die beiden Männer schütteln sich die Hände. „Wie geht es Ihnen, Barrenberg?“

„Man lebt halt!“ ist die lachende Antwort. Aber Jussnitz bemerkt das Zucken des Gesichtes dabei. „Ihre Frau Gemahlin ist doch mitgekommen?“ erkundigt er sich.

Barrenberg hat sich schwerfällig in einen Sessel fallen lassen und sieht auf seine bestaubten Stiefel.

„Wenn Sie Irene von Erlach meinen, so fragen Sie Signor Colani nach seiner Gemahlin! Er wohnt mit ihr in Florenz.“

Jussnitz weiß nicht, was er antworten soll; da fliegt die Thür auf und ein kleines Mädchen stürmt herein, den Hut im Nacken, daß die weichen goldschimmernden Haare um das Köpfchen tanzen. Es fällt Jussnitz um den Hals und küßt ihn.

„Papa, Papa! Tante Maiberg mit Fred und Tante Frey sind gekommen, und Fred will immer laufen, und dann kann er nicht und fällt immer hin – es ist zum Todtlachen!“

Jussnitz lächelt, heißt sein Töchterchen dem Fremden die Hand geben und bittet ihn dann, mitzukommen.

Von der Veranda tönen fröhliche Stimmen herüber; auf dem Kiesplatz davor spielt eine farbige Wärterin mit einem dunkellockigen Kinde.

Die Hausfrau hat den Kommenden gleich erkannt; in ihrer stillen wohlthuenden Freundlichkeit geht sie ihm entgegen. Er sieht sie erstaunt an – wie sie aufgeblüht ist in den warmen Strahlen der Glückssonne, die über ihrem Hause aufging! „Welch eine schöne, gute Frau!“ sagt sich Barrenberg, als er in die tiefen schimmernden Augen gesehen hat, und er nimmt Platz neben ihr, nachdem er den andern vorgestellt worden ist.

Er läßt seine Blicke umherwandern. Dort, die kleine Blonde hat er bisher nicht gekannt, das ist Frau Frey. Aber da, jenes schöne schlanke Weib in weißem Kleide, mit den träumerischen dunklen Augen, das ist die kleine Spanierin von damals. Hilde sitzt und wickelt Garn, eine alte Frau hält es ihr. Diese wird ihm als Frau Polly Berger genannt, die zum Besuch bei ihrer Nichte weilt.

Bald ist ein lebhaftes Gespräch in Fluß. Antje berichtet von dem gestrigen Fest; Hilde erzählt von ihrem Aufenthalt in Brasilien. „Ich kann nicht beschreiben,“ schließt sie, „wie selig ich war, als ich wieder deutschen Boden unter meinen Füßen hatte. – Es war ein zu guter Gedanke von Ihnen, Antje, daß Sie Wolf und mich hier als ‚Doktors‘ haben wollten.“

Dabei springt sie auf und läuft die Stufen hinunter, hebt ihren dicken kleinen Fred empor und küßt ihn so ungestüm, daß der Junge schreit. Sie muß sich immer ab und zu auf solche Weise Luft machen, sonst hält sie das Stillsitzen nicht aus. Dann kommt sie athemlos zurück und setzt sich mit leuchtenden Augen auf ihren Platz. „Ein zu guter Gedanke, Antje!“ wiederholt sie nochmals und sieht zu dem Schweizerhäuschen hinauf, das ihre Heimath ist.

„Meine Frau hat immer nur gute Gedanken,“ sagt Leo und drückt Antjes Hand. Sie wird dunkelroth vor Freude und beginnt ein Gespräch mit Barrenberg. Und dessen ängstliches Gesicht beruhigt sich. Ja, Antje konnte es wagen, Hilde hier eine Heimath zu geben, denn Leos Herz gehört ganz seinem Weibe.

„Ich las vor ein paar Wochen in der Zeitung einen langen Artikel über Ihr Anwesen,“ spricht Barrenberg zu der jungen Frau, „ich darf es doch auch einmal durchwandern?“

„Gewiß!“ ruft Jussnitz, „und der Chef selbst wird sich die Ehre geben, Sie zu führen.“

Sie lacht und verspricht es.

„Das nenne ich wirklich ideal, wo technische Leitung und Kunst so Hand in Hand gehen,“ sagt Barrenberg.

Am Abend begleitet Leo den Freund nach dem Wirthshause. Barrenberg hat die Gastfreundschaft Antjes abgelehnt. „Nicht aus Bescheidenheit, Jussnitz,“ erklärt er stockend, „aber – ich bin ja nicht gerade neidisch; Sie verstehen mich gewiß –. Leben Sie wohl, Jussnitz, Sie haben das große Los gezogen. Eine schöne Frau und eine kluge Frau ist die Ihre. Aber ihre Bedeutung liegt nicht darin, daß sie fähig ist, eine solche Stellung auszufüllen, ihre Bedeutung liegt in ihrer Güte, in ihrer echten Weiblichkeit. Die Güte aber, Jussnitz, das ist die Hauptsache! Signora Colani war eine gar nicht unbedeutende Frau, aber – wo war die Herzensgüte bei ihr? Ach –“

Und er drückt noch einmal Leos Hand, dann geht dieser zurück.

Im dunklen Garten kommt ihm langsam eine lichte Gestalt entgegen. Er legt den Arm um sie, beide wandern auf und ab.

Auf einmal bleibt er stehen. „Barrenberg hat recht,“ sagt er und streicht über ihre Wange. „Die Güte ist die Hauptsache – was hätte ich angefangen ohne Deine Güte!“

„Ohne Deine Kette!“ neckt sie leise und schlingt die Arme um seinen Hals.

„Gottlob!“ spricht er, sie küssend, „daß es solche Ketten giebt, Gottlob!“



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