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verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Tag so in ihrem engsten Familienkreis verleben wollte. Sie fand das unaussprechlich schwerfällig.

„Es fehlt nur, daß er endlich, wie der Freier im bürgerlichen Lustspiel, in Frack, weißen Handschuhen und den Strauß zwischen den Fingern bei uns vorfährt,“ dachte sie spöttisch, während sie ihr Kleid mit einer Schmucknadel schloß.

Nach einem lange prüfenden Blick fand sie diese Nadel zu groß, nicht einfach und deshalb nicht elegant genug, und während sie eine andere suchte, dachte sie, daß man „ihm“ das Spießbürgerliche schon abgewöhnen könne, daß der schwarze Frack sich mit Orden bedecken werde und daß er selbst in seiner Pedanterie nicht der Mann sei, über den außer ihr irgend ein Mensch zu lächeln wagen werde. Sie dachte es sich doch sehr großartig, an seiner Seite als Herrin in seinem Reich zu walten. Das war eine Lebensstellung voll fürstlicher Hoheit. Aber den Staatsdienst durfte er nicht aufgeben, er würde zweifelsohne sehr rasch steigen.

Und wenn sie dann draußen in der großen, glänzenden Welt Robert Clairon begegnete! Wie sie beide leiden würden in ihrer unglücklichen und nie endenden Liebe! Sie, die gefeierte Gattin des großen Lüdinghausen, war im Herzen gleichgültig gegen allen Glanz und dachte auch dann nur an den armen, einsamen, unvermählt gebliebenen Clairon.

Plötzlich kamen ihre Gedanken von der noch fernen Zeit etwas vernünftiger auf die nächste. Ziel und Ende waren nicht zu erreichen ohne den Weg dahin. Um Lüdinghausens Gattin zu werden, mußte sie sich zunächst mit ihm verloben, vielleicht heute noch und morgen dann schon dem Geliebten begegnen.

Ihr Herz begann so stark zu schlagen, daß es ihr dunkel vor den Augen wurde. Sie kämpfte einen Schwächeanfall nieder, und aus ihren Träumereien verfiel sie jäh in eine kalte Entschlossenheit.

„Das darf nicht sein,“ sagte sie sich. „Lüdinghausen darf nicht zu Wort kommen, so lange Robert noch hier ist. Die nächste Woche beginnen die Regiments- und Brigadeexerzitien – dann geht Robert ins Manöver. Heute will ich ihm schon entschlüpfen. Und morgen und alle Tage soll das Haus voll von Gästen sein.“

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und schrieb einige Zeilen an Clairon:

„Unser Schicksal naht sich einer Entscheidung. Stehe mir in diesen schweren Tagen durch Deine Gegenwart bei. Laß mich nicht allein mit L., ich fühle, daß er einen Antrag plant. Und kann, darf ich vernünftigerweise Nein sagen? Hilf mir, mich recht zu entscheiden! Bringe von den Bekannten mit, wen Du auftreiben kannst! Ich erwarte Dich morgen gegen Abend.

Deine Lea.“ 

Sie steckte diesen Brief in ihre Kleidertasche und war dann in zwei Minuten unten. Auf dem Flur fand sie Rahel mit Lüdinghausen in ihrem ernsten Gespräch einträchtig auf- und abgehen.

„Löst Ihr die soziale Frage?“ rief sie lachend.

„Annähernd,“ sagte Rahel.

„Es wäre nicht so übel, sie in Frauenhände zu geben, wenn alle so glücklich und so klug im Zugreifen und Ordnen wären wie Sie und Ihre Schwester,“ erklärte Lüdinghausen.

„Er bemerkt nicht, daß ich mich umgekleidet habe,“ sagte sich Lea, die immer gleich herausfühlte, ob man ein Auge für ihre Erscheinung hatte oder nicht.

„Denn über die Sache ‚Löhnert‘ haben Sie vortrefflich entschieden,“ fuhr er fort.

„Löhnert? Ich? Wieso?“ fragte Lea erstaunt.

„Aber ich bitte Dich – Du weißt doch – Löhnert mit seinen ewigen Geldschwierigkeiten,“ sagte Rahel, in große Verlegenheit gerathend.

„War der wieder einmal hier?“ fragte die Schwester gleichgültig. „Was habt Ihr denn mit ihm gemacht?“

„Das, was Sie befohlen haben,“ rief Lüdinghausen schnell, aber er sah Rahel groß an.

„Ich – befohlen? Ich weiß von nichts.“

Rahel lachte und ward dunkelroth. Lüdinghausen begriff.

„Mein Gott,“ dachte er beunruhigt, „diese Rahel regiert im Namen ihrer Schwester das ganze Haus.“

Zahllose kleine Züge fielen ihm ein, die er sonst wohl beobachtet, aber nicht des Nachdenkens für werth gehalten hatte. Ja, gewiß, Rahel gab immer Lea vor und beherrschte mit ihrem Willen die Eltern sowie das ganze Hauswesen. War das stille Herrschsucht, die sich so hinterlistig klug versteckte? Oder war diese verständig lenkende Hand hier nöthig und war es angeborene Bescheidenheit, daß sie so im Verborgenen waltete?

Während dieser seiner grübelnden Gedanken erzählte Rahel der Schwester den Hergang.

Lea fand die Geschichte sehr nett, besonders komisch aber fand sie es, daß Rahel zweihundert Thaler bereit liegen hatte.

„Sie macht ‚Schmugroschen‘ vom Haushaltungsgeld,“ rief sie und lachte unbändig. „Schmugroschen! Wissen Sie, was das ist, Lüdinghausen? Das thun die Köchinnen auch.“

Lüdinghausen fühlte einen kurzen, heftigen Aerger, der fast einem Schmerz glich – er wußte nicht, gegen welche der Schwestern. Es war ihm peinlich, daß die eine die andere auslachte wegen der nützlichen Sparsamkeit, und es war ihm mehr als peinlich, daß die vermeintliche nützliche Sparsamkeit vielleicht den Charakter dienstbotenartiger Durchsteckereien haben könne.

Rahel schossen Thränen in die Augen. Sie ging schnell und wortlos davon.

„Sie haben Fräulein Rahel gekränkt,“ sagte er mit bebender Stimme.

„O, das thut mir sehr leid,“ erwiderte Lea mit so einfacher und schöner Betonung, daß er ganz entwaffnet war.

„Sie lieben sich sehr?“

„Unaussprechlich. Und Rahel ist so ein Wesen – die könnte in den Tod gehen für mich,“ sagte Lea in ihrer pathetischen Art. Sie hatte nie daran gedacht, wie ergeben und selbstlos Rahel ihr gegenüber immer war; in diesem Augenblicke aber war ihr das ernste Ueberzeugung, welche sich daneben mit dem unbewußten Gefühl verband, daß es einen schönen Eindruck mache, wenn sie so warm von der Schwester spreche.

Lüdinghausen küßte Lea die Hand. Er war ganz stumm. Eine unerklärliche Bewegung hatte sich seiner bemächtigt.

Jetzt kam Herr von Römpker nach Hause. Er war außer sich vor Vergnügen über den Besuch „seines lieben Freundes“ Lüdinghausen. Fast umarmte er ihn. Lüdinghausen hätte blind und taub sein müssen, nicht zu bemerken, wie er in diesem Hause willkommen war. Römpker nahm den Gast mit in seine Stube und that überhaupt, als hätte Lüdinghausen schon ein Recht, sich hier heimisch zu fühlen.

Lea suchte Ludwig auf und stellte ihn in einem dämmerigen Gang des Erdgeschosses, wo er eben einen Arm voll Flaschen aus dem Weinkeller nach der Anrichtkammer trug. Ludwig lächelte sie strahlend an. Er schwärmte für sein Fräulein und fühlte sich ihm bei allem Respekt doch recht vertraulich nahe in seiner Stellung.

„Wollen und können Sie diesen Brief heute noch besorgen?“ fragte Lea und deutete mit dem Zeigefinger auf ihre Tasche, was für Ludwig verständlich genug hieß, daß ein Brief für den Grafen Clairon darin sei.

„In jedem Fall. Und sei es in der Nacht,“ erwiderte Ludwig, die Flaschen enger an seine Weste drückend, als bekräftige er damit das Versprechen.

„Sie sind ein vortrefflicher Mensch, Ludwig,“ sagte sie und lächelte ihn an, so, wie es ihr eine Nothwendigkeit war, jeden anzulächeln, im unbewußten Wunsch, immer zu bezaubern.

Dann ging sie in bester Laune wieder hinauf und war bei Tisch der Mittelpunkt der muntersten Unterhaltung.

Lüdinghausen fühlte sich allen Anwesenden in der That bei diesem Mahle schon sehr nahe. Ihm war, als übersähe er Menschen und Verhältnisse schon klarer, und er beobachtete freier. Er begriff jetzt nicht, daß er Rahels Stellung zwischen den Ihrigen so lange verkannt, und daß er sie überhaupt für eine so nebensächliche Person hatte halten können. Er versuchte, sich in knappen Formeln den Unterschied zwischen den beiden Schwestern festzustellen.

„Leas Augen sagen: ich möchte! diejenigen von Rahel: ich will!“

Er bewies sich, daß es für einen Mann reizvoller sein müsse, viel Wünschen, als viel Willen zu begegnen.

Und auf einmal kam ihm die Erkenntniß, worüber er ein Lächeln des Vergnügens unterdrücken mußte, daß es ihm heute ja sehr wunderlich ergehe: er war ausgezogen, Lea besser kennenzulernen, und gewann Einblicke in Rahels Wesen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1891). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1891, Seite 344. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_344.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2023)