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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

„Habt Ihr Platz für mich die Nacht?“ fragte er.

„Aber natürlich, Herr Jussnitz!“

„Nun, da gebt mir mein altes Stübchen bis morgen und, wenn’s möglich ist, einen Schnaps, ich klappere vor Kälte.“

Sie führten ihn in die Stube und er setzte sich auf die Ofenbank; die Hunde schnupperten an seinen Kleidern, die Buchenscheite krachten im Verbrennen und „Frau Dorchen“ holte die Flasche mit dem Nordhäuser und das kleine dicke Gläschen aus dem Wandschrank.

Er griff gierig danach und trank. „Ihr habt’s gut hier oben,“ sagte er.

„Wenn ich nur wüßte, warum Sie heute abend hier herauf gekommen sind?“ erkundigte sich die neugierige Frau, „mit der Auerhahnbalz ist’s noch lange nichts bei dem Schnee.“

„Frag’ nicht, mach’ die Stube für den Herrn in Ordnung, heize ein!“ bedeutete der Förster.

Und als sie hinaus war, setzte er sich still in den Lehnstuhl; er hatte gemerkt, daß da etwas nicht geheuer sei mit dem späten Gast. In der Gegend war es ja kein Geheimniß, daß Schwiegermutter und -sohn nicht im besten Einvernehmen gestanden, und Gott mochte wissen, was es bei der Testamentseröffnung gegeben hatte. Dorchen hatte ja erzählt, sie habe gleich nach dem Begräbniß stattfinden sollen.

„Sie sehen aus, als wenn Sie nicht recht wohl wären, Herr Jussnitz.“

„Ist auch der Fall, lieber Wend,“ erwiderte der Angeredete.

„Wird wohl bald fertig sein, die Dore.“

In der That klapperten die Pantoffeln der jungen Frau eben eilig das Treppchen herab. „Wenn’s gefällig ist, Herr Jussnitz,“ rief sie in der Thür.

Er erhob sich und bot dem Förster die Hand: „Gute Nacht, Wend!“

Frau Dora leuchtete ihm die Stiege hinauf. „Es ist lange her, seit Sie hier das letzte Mal geschlafen haben, Herr Jussnitz,“ lachte sie, „bücken Sie sich nur, Sie sind derweilen nicht mehr durch so niedrige Thüren geschlüpft. In Ihrem Schlosse daheim sind sie gewiß so hoch und breit wie unser ganzes Haus – nicht wahr?“

Er war schon drinnen in dem winzigen Raum. Als er sich umwandte, um ihr „Gute Nacht!“ zu sagen, sah er, wie das hübsche Gesicht jäh erblaßt war und wie ihre Hand nach dem Herzen griff. Er verstand sie; sie dachte daran, daß er aus diesem Stübchen weggegangen war, um da draußen im Walde zu „verunglücken“.

„Gute Nacht!“ stotterte sie, „und, Herr Jussnitz, wenn Sie krank werden sollten, wecken Sie uns – Sie wissen, wir schlafen grade unter Ihnen – Sie sehen so erbärmlich aus –“

„Schlaft nur ruhig,“ sagte er, „mir geschieht nichts.“

Sie ging zögernd. Er hörte sie die Treppe hinuntersteigen, und es war ihm, als husche etwas an ihr vorüber, dränge sich durch den Thürspalt und erfülle das Stüblein mit wundersamem Raunen und Klagen – – War es die Erinnerung?

Er setzte sich auf den Rand des Bettes, nachdem er das Licht gelöscht hatte; er sah ja trotz alledem so deutlich in der Mondnacht. Er sah die getünchten Wände und das Spiegelein über der Kommode, hinter dem ein paar Pfauenfedern steckten, er kannte jede der kleinen seltsam verwachsenen Rehkronen daneben, und er sah die Kohlezeichnungen auf den Wänden. die von verschiedenen Meisterhänden herrührten und allerhand launige Jagdabenteuer darstellten; der Förster hütete sie wie die kostbarsten Albumblätter. Leo selbst hatte ja dort die junge Förstersfrau gezeichnet, wie sie keck auf dem Besenstiel nach dem Brocken reitet, die Lola vor sich auf dem Schoß. die den Mond anheult. Wie hatte das lustige Weib gelacht, als sie es sah! Und wie er sie später malte, und wie das Bild ihm gedieh! Und wie in den Frühstückspausen die kleinen Käschen so gut schmeckten und das braune schäumende Bier! Das war doch noch Leben gewesen!

Gleich goldschimmernden Strahlen zieht es vor seinen Augen dahin; er hebt die Hand, er will ihn festhalten, diesen Schimmer – fort – fort – und wieder sitzt er hier in der Dämmerung eines Herbstabends um zwei Jahre später – das Herz leer – der Kopf leer und auch die Taschen! Es will ihm nichts mehr glücken, die Spannkraft versagt, er hat keine Ideale mehr, hat sie verloren in dem Treiben der großen Stadt, in allerhand müßigem Getändel. Er hat Geld gebraucht, viel Geld, hat Schulden und keine Aussicht, sie zu bezahlen, er ist bankerott an Leib und Seele! Und drunten steht der Gewehrschrank des Försters, und im Wald ist weit und breit kein Mensch – –

Er sieht in der Erinnerung deutlich den Strauß, den Frau Dorchen dazumal auf die Kommode gestellt hatte; rothe Ebereschen sind’s gewesen, goldgelbe Blätter und grüne Tannenzweiglein – Er aber ist auf einmal fort, und draußen, weit draußen ist ein Schuß gefallen. – –

Der Mann auf dem Bettrand bebt wie im Fieber. „Nun kommt erst recht das Elend!“ sagt er vor sich hin. – Er sieht sich erwachend in einem fremden Raum, er hört ein merkwürdiges taktmäßiges Pochen und Hämmern, das Lager und die Vorhänge sind schneeweiß, und durch die Fenster bricht Sonnengold. Er athmet Veilchenduft; auf seiner Decke liegt ein Sträußlein der blauen Blüthen, und neben dem Lager in dem tiefen Lehnstuhl ruht im Schlummer ein blonder Mädchenkopf.

Welch ein weiches kindliches Gesicht!

Er tastet nach den Blumen, unbeholfen, ungeschickt, es thut ihm weh in der Brust. Ein leiser Schmerzenslaut läßt das Mädchen erwachen, ein Paar klarer grünlicher Augen, unergründlich wie das Meer selbst, schaut ihn an, und plötzlich überzieht eine Purpurgluth das Gesichtchen; sie springt auf und sagt, sie wolle die Mutter rufen.

Das ganze wohlige Gefühl der Genesung überkommt ihn; die ersten Gehversuche, das entzückende Grün der Bäume, die Frühlingsluft der Berge. alles taucht wieder vor ihm auf – und dann sieht er sich am Arm des Mädchens im Garten. Tiefblau ist der Himmel über ihm und die Sonne scheint schon recht warm auf den Kies der Gartenwege; über das Wehr rauscht und tost das Wasser und auf den Beeten blühen gelb und lila die Krokus. Er weiß selbst nicht, wie es gekommen ist, er hat sie auf einmal gefragt, ob sie sein werden wolle. Und da hat er ein Ja! gehört, ein schüchternes und dennoch festes Ja! –

Leo hatte jetzt wieder das merkwürdige Gefühl, das ihn seitdem nicht mehr verlassen, das Gefühl, welches den Menschen überkommt, wenn er einem andern sich verpflichtet weiß und kann sich nicht erkenntlich genug dafür zeigen. Es ist ein dummes Bewußtsein, es macht reizbar und nervös und ungerecht. Es ist so schwer, Großmuth zu ertragen, furchtbar schwer; man möchte die, denen man sie verdankt, fast hassen, zumal wenn man den Geber in geistiger Beziehung so tief unter sich glaubt, so tief – –

Merkwürdig, je mehr er nahm, desto reizbarer wurde er. Lächerlich! Sie war ja sein Weib, sie hatte ihm tausendmal gesagt: „Was mein ist, ist auch Dein!“ Und dennoch, dennoch! Ja. zum Donnerwetter – – Hatte er denn gar nichts dagegen in die Wagschale geworfen? Seinen Namen, seinen ehrlichen Namen und – nichts weiter. – Wahrhaftig, nichts – nichts! Nicht einmal ein Bild war ihm geglückt, weil – weil sie ihn herabzog in die Prosa des Lebens. Sie trug die Schuld an allem.

Er war nur froh. daß er ihr gesagt, mit aller Rücksichtslosigkeit gesagt hatte, daß sie nichts als seine Kette sei – trotz ihres Reichthums. Das jämmerliche Weib des Schnapssäufers stand über ihr wie eine Heldin; es hatte doch die Kraft gehabt, Treue zu halten trotz allem bis zum Ende. – Er aber war hinausgewiesen!

Er lachte kurz auf.

„Wahrhaftig – folgerichtig gehandelt ist es, daß sie mich entließ, das muß man zugeben; ich hätte es ihr kaum zugetraut. Gott sei Dank!“

Er begann sich zu recken und zu strecken, wie ein von Gefängnißketten Entlasteter, aber er spürte kein wohliges Freiheitsgefühl. Die Freiheit ist nicht frei ohne klingende Münze, und lieber wollte er verhungern. ehe er einen Groschen von dem Almosen nahm, das sie ihm jedenfalls anbieten lassen würde.

Aber wohin? Was nun?

Er fing an, sich zu entkleiden, und nahm gewohnheitsgemäß Brieftasche und Skizzenbuch aus den innern Taschen seines Jacketts. Da war ja auch noch der Brief und die Depesche, die er bei seinem Fortgehen drunten auf der Hütte erhalten hatte; ferner der elegante Taschenrevolver, und hier endlich auch die kleine rothe Schleife, die er seit ungefähr einer Woche bei sich trug. Das dunkle Köpfchen, in dessen Haar diese Schleife gesessen

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