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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

auch berühmter gegolten hat, um welchen sich rin reicherer Schatz von Sagen sammelte, als um irgend einen anderen Platz der Troas. Gewiß ist es bedeutungsvoll, daß bis jetzt in der ganzen Troas auch nicht ein einziger anderer Platz entdeckt worden ist, der seiner ursprünglichen Anlage nach oder seiner immer erneuten Besiedelung wegen auch nur entfernt mit dem Trümmerhügel Hissarlik verglichen werden kann.

Hier ist nachher auch in historischer Zeit fortgebaut worden. Hier treffen wir die aus Quadern errichteten Mauern der makedonischen Zeit, hier sind in weiter Ausdehnung, selbst über den Burgberg hinaus, die Felder mit den Trümmern der römischen Kolonie Neu-Ilion bedeckt, hier wurden zweifellose Ueberreste der Byzantiner ausgegraben. Mit dem Zerfall der oströmischen Herrschaft hörte auch die Bebauung des Hügels auf. Nur noch nomadisierende Hirten weideten auf demselben ihre Heerden. Damit schwand die Kontinuität der Sage, aber glücklicherweise auch der Anreiz zur Nachgrabung und Zerstörung des noch Vorhandenen. Erst der „Traum“ eines mecklenburgischen Knaben, in früher Zeit angeregt durch die Erzählungen eines Vaters von gelehrter Bildung und durch ein an sich werthloses Bildwerk, sollte sich in einer tiefgehenden Untersuchung verwirklichen, welche der gereifte Mann nach einem langen und arbeitsvollen Leben mit den großen, darin erworbenen Mitteln unternommen und fast ganz zu Ende geführt hat.

Zu der Zeit, wo Homer lebte oder, falls er nicht gelebt haben sollte, wo die mit seinem Namen bezeichneten Dichtungen entstanden, konnte nach diesen thatsächlichen Feststellungen nichts mehr von der alten Burg sichtbar sein. Sie war schon damals nicht nur bis auf die Grundmauern zerstört, sondern auch von einer Reihe späterer Ansiedlungen überbaut, ungefähr so, wie die alten ägyptischen Tempel bis auf unser Jahrhundert großentheils mit den elenden Lehmdörfern koptischer Ansiedler bedeckt waren, deren Schutt nach und nach die Hallen und Kapellen gefüllt und jeden Tempel in einen großen Schuttberg, heutigen Tages „Kom“ genannt, verwandelt hatte. Es ist nur der große Unterschied, daß in Aegypten noch neue prächtige Tempel aufgeführt wurden, als an die Stelle der alten Pharaonen ein makedonisches Herrschergeschlecht und schließlich römische Kaiser getreten waren, also zu einer Zeit, als in der Troas nur noch ein unscheinbarer Hügel vorhanden war. Wer will es entscheiden, ob die verschüttete Burg im tiefsten Grund dieses Hügels den Namen Ilios getragen hat, und ob der Herrscher und seine Angehörigen von ihren Zeitgenossen so genannt wurden, wie die Dichtung sie nennt? Das sind an sich müßige Fragen, wenngleich sich auch über diese Namen manches sagen läßt.

Die homerische Dichtung beschäftigt sich aber nicht bloß mit Ilios und seinen Bewohnern. Sie schildert die ganze Umgebung, vorzugsweise die benachbarte Ebene mit ihren Flüssen und Dörfern, die Küste des Hellespont und die Umrahmung mit Bergzügen. Da ist zweifellos das Schlachtfeld, auf welchem Achäer und Troer in immer erneuten Kämpfen aufeinander stießen. Die „Ilias“ beschreibt aber auch in unerreichter Naturtreue das größere Bild, das man von der Höhe von Hissarlik überschaut: das weite Meer mit seinen Inseln Tenedos, Lemnos und vor allen die hochragende Felsmasse von Samothrake. und gegen Süden das bergige Mittelland der Troas, abgeschlossen durch die ferne Gebirgskette des Ida. Noch heute zeigt der Himmel über diesen Fernpunkten jene wechselnden Gestaltungen des Gewölkes, sein plötzliches Entstehen, sein Fortschreiten, die Gewitterbildung, – lauter Erscheinungen, in denen der Glaube des Volkes das Walten der Gottheit zu erkennen meint. Kaum dürfte ein zweiter Ort innerhalb des Bereiches altgriechischer Anschauung vorhanden sein, der mehr geeignet wäre, durch die Großartigkeit des Naturbildes als Unterlage für die Annahme einer persönlichen Anwesenheit und Mitwirkung der Götter zu dienen. Daraus begreift sich die künstlerisch vollendete Verbindung göttlicher und menschlicher Thaten, welche die „Ilias“ bietet, und welche während der ganzen klassischen Zeit in Griechenland und Rom den Inhalt der mythologischen Vorstellungen, der poetischen und künstlerischen Schöpfungen, der Götter, und Heroensagen bestimmt hat.

Dieses Gesammtbild der troischen Landschaft war es. welches durch die Jahrtausende hindurch, als jede Spur des alten Ilios verschwunden zu sein schien, den Glauben erhielt, daß die Burg in dieser Gegend oder gar an dieser Stelle gelegen haben müsse. Als der Glaube an Zeus und Poseidon. an Here und Athene verblaßte. erhielt sich doch in unveränderter Form die Gestalt der Berge und Hügel, welche einst als ihre Sitze oder wenigstens zeitweiligen Standplätze verzeichnet waren. Der Glaube an Ilios, an Priamos und sein Haus, an die Helden der Achäer überdauerte den Glauben an die Götter. Aber heute müssen wir den Kritikern zugestehen, daß dieselbe Dichtung, welche die Landschaft malt, wie sie noch heute ist, an die Stelle der wirklichen Burg und der vorgeschichtlichen Helden poetische Gestaltungen gesetzt hat, für welche die Ausgrabungen nur unvollständige Beweise, oft genug sogar Gegenbeweise geliefert haben.

Die Helden der Dichtung kämpfen vielfach zu Roß oder zu Wagen. Aber in den Trümmern der prähistorischen Stadt haben sich keine Wagenreste gefunden und unter der Unmasse von Thierknochen nur vereinzelte Gebeine von Pferden. Kein Schwert ist zu Tage gekommen, dagegen neben einzelnen Bronzen zahlreiche Waffen von Stein, deren in dem Gedichte mit keinem Worte gedacht wird. Unverkennbar schildert uns der Dichter Krieger seiner Zeit, wo das Eisen zu allgemeinem Gebrauche gekommen war; er hatte keine Ahnung davon, wie die Ausrüstung des Kriegers der Urzeit beschaffen war. Mit derselben Naivetät überträgt er die Sitten und Gewohnheiten seiner Zeitgenossen auf jene alten Geschlechter, welche seit vielen Jahrhunderten begraben waren. Mit dem gleichen Rechte könnte ein Dichter unserer Zeit die Krieger Karls des Großen mit Hinterladern bewaffnen und ihnen Kanonen zur Verfügung stellen. Homer beschreibt eben seine Zeitgenossen und nicht das troische Urvolk. Wo die Grenzen der Erfindung oder der Uebertragung liegen, das ist also selbst hier eher zu Ungunsten des Dichters zu entscheiden. Leider hat auch die Untersuchung der Heroengräber in der Troas, auf welche Schliemann so große Hoffnungen gesetzt hatte, fast nur negative Ergebnisse geliefert. Nur im Hanai Tepe wurden zahlreiche Skelette zu Tage gefördert, aber auch da nichts von solchen Waffen und Geräthen, wie sie die „Ilias“ voraussetzt.

Im Hausbau sind die Menschen verhältnißmäßig konservativ, und daher ließe sich eher annehmen, daß die Schilderung der Häuser auch noch zugetroffen haben könnte, als sie selbst nicht mehr vorhanden waren. In der That habe ich nachgewiesen, daß die architektonischen Gewohnheiten der vorgeschichtlichen Zeit sich noch heutigen Tages in allen Theilen der Troas nachweisen lassen: ein Unterbau aus Bruchsteinen, ein Oberbau aus Lehmziegeln, drüber Holzbauten. Diese Anordnung ist in den alten „Städten“ von Hissarlik, abgesehen von den Holzbauten, ganz deutlich. In der „Ilias“ finde ich keine Andeutung davon, aber auch keine bestimmte Angabe gegentheiliger Einrichtungen. Daher steht unmittelbar nichts entgegen, die Trümmer der „zweiten Stadt“ mit Schliemann auf die Burg der Sage zu beziehen.

Der Versuch, die untergegangenen Gebäude des alten Schutthügels aus der Reihe menschlicher Wohnungen zu streichen und den ganzen Hügel als eine gewaltige Anhäufung von Gräbern mit Leichenbrand, als eine „Feuernekropole“ zu erweisen, ist nach meiner Ueberzeugung nicht gelungen. Er beruhte ursprünglich auf mißverständlichen Bezeichnungen und Deutungen, welche Schliemann seinen Funden in der ersten Zeit seiner Ausgrabungen, als er noch wenig erfahren in archäologischen Untersuchungen war, gegeben hatte. Er selbst hat seine damaligen Auslassungen als irrthümliche zurückgenommen, und ich kann versichern, daß mir bei zweimaliger, wochenlanger Anwesenheit auf Hissarlik nichts vorgekommen ist, was darauf hingedeutet hätte, daß in den prähistorischen Zeiten auf dem Hügel Leichenverbrennungen stattgefunden hätten oder Gräber in auch nur mäßiger Zahl angelegt worden wären. Die prähistorischen Schichten stammen von menschlichen Wohnungen und sind endgültige Beweise dafür, daß hier Ansiedlungen vorhanden waren. Man mag über die Bedeutung einzelner Gebäude streiten, z. B. ob sie Paläste oder Tempel waren. aber das ändert nichts an dem Gesammtcharaker der Anlage.

Schliemann hat die trojanischen Ausgrabungen wiederholt unterbrochen, um an anderen Plätzen, welche die homerische Dichtung aus der Zahl der damals bewohnten Hauptorte hervorhebt, Untersuchungen zu veranstalten. Das waren vorzugsweise Mykenä, Tiryns und Orchomenos, jene beiden im Peloponnes, in der Nähe von Argos, dieses in Böotien. Er hat dieselben mit noch größerer Uneigennützigkeit ausgeführt, denn er hat seine dortigen Funde ohne Entschädigung der griechischen Regierung

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