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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)


Abschied voneinander, wenn man sich so trennt, es wäre ja auch nicht zu ertragen. Sie sah, wie sich die Thür aufthat, sie fühlte die kalte Regenluft, die bis zu ihr herüberdrang, sah die Pforte sich wieder schließen, und nun war er fort.

Ihre Füße wollten sie auf einmal nicht mehr tragen; sie taumelte zurück in das kleine Stübchen, und dicht hinter der mit letzter Kraftanstrengung geschlossenen Thür sank sie in die Kniee.

Nun war es vorüber – vorüber!

Sie fühlte nichts als einen dumpfen Schmerz in Brust und Kopf. Wie lange sie so dalag, sie wußte es nicht; sie raffte sich endlich auf und schleppte sich zu dem Schreibtisch hinüber und legte den Kopf auf die tuchbezogene Platte.

Sie dachte, dachte lauter wirres Zeug; daß sie das Weib beneidete, welches jetzt dem Manne ihres Herzens den Betäubungstrank reichen durfte, daß Leo hätte ertrinken können bei dem Rettungswerk und wie sie es hätte ertragen sollen, an seiner Leiche zu stehen, ohne ein versöhnendes Wort gesprochen zu haben. Und sie dachte, daß das arme Weib besser wäre als sie, hatte es doch ausgehalten in Noth und Elend neben dem Manne, dem es Treue gelobt!

Und dann fuhr sie empor. Nein! Und tausendmal nein! Sie konnte nicht anders, sie durfte ihn nicht halten, sie war ja eine Ketteseine Kette, und keine Minute würde ihr vergehen neben ihm, ohne daß sie es hätte fühlen müssen, wie er unglücklich war durch sie, gefesselt, zu Boden gedrückt! Nein, nein! Es war alles zu Ende, mußte zu Ende sein!

Draußen erklangen leise Schritte; vor Antjes Thür machten sie halt. „Frau Jussnitz!“ sagte eine klare Stimme.

Sie rührte sich nicht.

„Ein Wort nur, Frau Jussnitz; bitte! bitte!“

Antje hielt den Athem an und schaute finster nach der Thür. Leise bewegte sich die Klinke – umsonst, sie war verschlossen und zögernd entfernten sich die Schritte wieder.

Sie stützte wieder den müden Kopf in die Hand. Endlich raffte sie sich auf und klingelte dem Stubenmädchen. Dieses trat ein mit der Frage, ob Fräulein von Zweidorf vielleicht hier sei.

„Nein!“

„Lieber Gott, wir suchen sie im ganzen Hause und auf der ganzen Hütte wie eine Stecknadel. Und der Herr ist fort und der Herr Doktor dazu!“

Die junge Frau antwortete nicht. In völliger Ruhe befahl sie dem Mädchen, nach dem Kinde zu sehen, und schritt die Treppe hinunter. Im Hausflur trat ihr Maiberg entgegen.

„Wo kommen Sie her?“ fragte sie.

„Von dem unglücklich geretteten Schnapsbruder,“ erwiderte er mit einem Anflug von Galgenhumor. „Er ist soeben unter meinen Augen gestorben, der Wunsch der Frau also erfüllt. Uebrigens habe ich nie einen derartigen Schmerzensausbruch gesehen wie bei dem armen Geschöpf, als ich ihr sagte, es sei alles vorüber.“

Antje nickte eigenthümlich. „Und wo ist er?“ fragte sie endlich.

Maiberg seufzte.

„Leo wollte auf mich warten vor dem Hause, in welchem der Todte lag; als ich zurückkam, war er fort. Einer der Hüttenarbeiter hatte ihn auf der Chaussee gesehen. Ich will mir nun ein Pferd satteln lassen und ihm nachreiten; ich versprach es ihm.“

Sie sah ihn nicht an. „Und wo ist sie?“ fragte sie nun.

„Wer?“

„Hildegard. Wir suchen sie überall.“ Dann wandte sie sich um und reichte ihrem Vetter die Hand, der hinzugetreten war, um sich zu verabschieden.

„Cousine, wann Du willst, verfüge über mich!“ sagte er.

„Ich danke Dir! Fährst Du nach J. hinunter?“

„Nein, über Oberrode durch die Klippen.“

Sie nickte ihm müde zu. „Komm gut heim, Ferdinand!“

An ihr vorüber eilte Maiberg die Treppe empor, aber das Zimmer Hildegards war leer. – Und die Nacht draußen so finster und stürmisch, und sie so jung, so allein, so unbeschützt! Natürlich, sie war fort, tollköpfig wie immer. Wo wollte sie hin? – –

Er zündete eine Kerze an und suchte nach einem Zettelchen oder irgend etwas, das ihm hätte Aufklärung geben können. Umsonst! Er eilte hinüber in seine Stube; es war ein Eckzimmer. Der Frühjahrssturm klapperte an den Läden, und die Flammensäulen aus den Essen des Werkes leuchteten mit eigenthümlich rothem flackernden Licht herein. Mitten in dem Gemach blieb er stehen und horchte auf das Toben des Windes. Großer Gott, wo war das unbesonnene Kind in dieser unheimlichen Nacht? Er hob den Ueberzieher, den er schon halb von den Schultern gezogen hatte, mit einem einzigen Ruck wieder hinauf; das Pferd mußte bereits vorgeführt sein, auf der Chaussee konnte er sie möglicherweise einholen, sie und – ihn? In höchster Aufregung griff er zu seinem Hut – da regte es sich in dem Winkel am Fenster und eine schlanke Gestalt glitt zu ihm herüber.

„Hilde!“ schrie er auf. In dem zuckenden Flammenschein von draußen sah er das nämliche blasse verzweifelte Gesicht wie vorhin. „Mein Gott – Hilde! Welchen Mißdeutungen setzen Sie sich aus!“ schalt er, als sie schweigend den Kopf senkte.

„Ich fürchtete mich,“ fagte sie leise, „wo sollte ich hin?“

„Und da kommen Sie zu mir?“ – Er hatte den Ueberzieher nun doch abgeworfen und den Hut auf den Tisch geschleudert.

„Zu wem denn sonst?“ fragte sie, als sei es selbstverständlich, daß sie zu ihm flüchte. „Als ich bei Frau Antje pochte, hat sie mir nicht aufgethan.“

Er hatte ihre zitternden Hände gefaßt; eiskalt lagen sie in den seinen. „Zu wem denn sonst?“ wiederholte er leise. Aber als jetzt Schritte auf dem Gange draußen erklangen, zuckte er zusammen und blickte nach der Thür. „Gehen Sie nachher gleich in Ihr Zimmer,“ sagte er flüsternd und ließ sie los.

Sie trat von ihm weg, und ihm den Rücken kehrend, schlug sie die Hände vor das erglühende Gesicht.

„Hilde,“ sprach er mit gedämpfter Stimme weiter, „so vernünftig wird Ihr Tollkopf doch sein, daß Sie sich sagen müssen, man darf Sie hier nicht finden. Was wollen Sie von mir? Sprechen Sie rasch, jeden Augenblick kann jemand von den Dienstleuten kommen.“

„Mein Gott, was habe ich wieder gethan?“ rief sie, „ach, und wenn Sie alles wüßten! Habe ich denn gar keine Zuflucht mehr? Nichts weiter will ich als fort, nur fort von hier!“

„Ja doch, Sie sollen fort! Nur heute abend geht es nicht mehr, Sie Unverstand!“

„Aber morgen – morgen! Bitte, bitte!“

„Morgen oder übermorgen – jetzt muß ich Jussnitz suchen, kehre jedenfalls noch einmal zurück, und dann – wollen Sie vernünftig sein?“

Sie nickte; sie stand wieder vor ihm, leise weinend.

„Was soll aus Ihnen werden, Hilde, ohne eine treue feste Hand?“ sagte er weich.

„Wenn ich nur anders sein könnte!“ schluchzte sie. Und zum besten Beweis, daß dieses „Anderswerden“ wohl nicht so rasch zu hoffen sei, stürmte sie unbesonnen aus dem Zimmer. Draußen sah sie sich erschreckt nach allen Seiten um wie ein geängstigtes Reh. Gott sei Dank, der Gang war leer! Sie huschte nach ihrer Stube hinüber, schloß geräuschlos die Thür hinter sich und stand hochathmend still. Dann tastete sie sich nach dem Sofa, kauerte sich in eine Ecke und wollte vor Thränen vergehen; aber sie fürchtete sich nicht mehr.

Als sie nach einigen Minuten den Hufschlag eines gäloppirenden Pferdes zwischen dem Tosen des Windes und dem Pochen der Hämmer vernahm, hob sie den Kopf und faltete die Hände.

Gegen Morgen kam Maiberg zurück; er hatte Leo nicht getroffen, weder auf der Bahnstation, noch in den Gasthöfen des benachbarten kleinen Badeortes. Er mußte durch den Wald gegangen sein nach einer andern Bahnstation auf der Südseite des Gebirges.

Todmüde suchte Maiberg sein Lager auf. „Armer thörichter Kerl!“ murmelte er. „Wie kann man so gewaltsam sein Glück verkennen!“

(Fortsetzung folgt.)




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