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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

„Meine Herrschaften,“ sprach der Landrath und wandte sich mit seiner starken Stimme an die Anwesenden, als wollte er eine Rede an das Volk halten, „da wir hier hinausgeworfen werden, lade ich Sie insgesammt ein, nach Kohlhütte zu fahren. Es ist mir ein unabweisbares Bedürfniß seit sechsundvierzig Jahren – also seit ich mich erinnern kann – mir an Römpkers Geburtstag meinen Magen zu verderben. Ach, Römpker – die seligen Zeiten, als wir’s noch mit Chokolade und Kuchen thaten! Ehren wir die feierliche Stimmung dieser guten Töchter, die ihren Vater an seinem fünfzigsten Geburtstag Vernunft lehren wollen, wünschen wir ihnen allen Erfolg und lassen wir sie allein!“

Er zählte jetzt erst, wieviele zugegen waren. Der Pastor und seine Frau, der Rittmeister Baron Ehrhausen und Frau, zwei jüngere Offiziere, die Gattin des Bürgermeisters und ein Gutsnachbar mit Tochter.

„Neun Personen – mit mir zehn. Na, meine Christel wird’s schon machen.“

Christel war seine Wirthschafterin auf seinem Gut Kohlhütte, und man sagte, daß sie, die seit seinen Knabenjahren im Hause war, ihn gänzlich tyrannisire.

„Ist denn Clairon nicht hier?“ fragte er plötzlich, den häufigsten Gast des Hauses vermissend.

Wieder ängstigte sich Frau von Römpker und wieder war es Rahel, die gleichmüthig sagte:

„Er ist schon hier gewesen.“

Also auch er ist nicht zum Bleiben aufgefordert worden, dachten die Damen; mit der Verlobung war es also nichts. Lea sowohl wie ihr Vater bemerkten recht gut die Blicke, welche man sich hier verständnißvoll zuwarf.

Raimar in seiner großen Lebhaftigkeit hatte aber noch etwas zu sagen.

„Kinder, Ihr bekommt einen neuen Landrath,“ rief er und sah alle nach der Reihe triumphirend an. Nachdem er sich an dem allgemeinen Erstaunen geweidet hatte, erklärte er:

„Meine Verdienste schrieen gen Himmel. Dreimal hatte ich schon alle Beförderung abgelehnt mit der Bitte, mich als Landrath in diesem Kreise zu lassen, wo ich mein Gut habe, wo ich jedes Kalb und jede Kuh kenne, wo kein Tagelöhner sich untersteht, ans Auswandern zu denken, und kein sozialdemokratisches Wörtchen gehört wird, wo ich gewesen bin wie ein Vater für die Unmündigen und Waisen …“ Er lachte sein gutes, sehr lautes Lachen.

„Nun, und?“

„Nun, und es ging nicht länger. Ich sollte und sollte meine Talente in einem größeren Wirkungskreis glänzen lassen.“

„Sie gehen von uns?“

„Nein, Raimar, das darfst Du nicht.“

„Was sagt Ihre Christel?“

„Wollen Sie Kohlhütte verpachten?“

Er ließ alle fragen und reden und lächelte siegreich über sie hinweg. „Ich habe abgelehnt. Ich trete aus dem Staatsdienst und bleibe der Eure. Nur die Winterwohnung in der Stadt, die von Amtswegen nöthig war, die gebe ich auf.“

An dem echten Freudenausbruch konnte der heitere Junggeselle ermessen, wie sehr beliebt er war. Die Pastorin hatte einen Einfall:

„Allein auf dem Lande im Winter? Nein, lieber Herr Landrat, nun müssen Sie heirathen, denn wie wollen Sie die Zeit hinbringen, die sonst Ihr Amt ausfüllte?“

„Richtig! Suchen wir ihm eine Frau!“ sagte die Baronin Ehrhausen.

„Mich nimmt keine!“ versicherte Raimar.

„Jede,“ sagte Römpker, „denn Du bist noch ein junger Mann. Eben fünfzig. Als ob das ein Alter wäre!“

„Wir wollen gleich mal sehen,“ lachte Raimar, von dem bloßen Gedanken an lieben, werben, heirathen ungemein belustigt. „Lea, willst Du mich?“

Lea hatte theilnahmlos am Fenster gestanden und auf den Park hinausgeblickt. Sie wandte das dunkle Haupt und sagte: „Ich? Nein. Ich würde Dich wenig glücklich machen, Onkel Landrath. Auch entsprichst Du meinem Ideal nicht.“

„Erster Korb. Meine Damen, ich werde Sie über alle Körbe, die ich bekomme, auf dem Laufenden erhalten. Rahel, mein Kind, willst Du mich denn? Oder hast Du auch ein Ideal?“

Rahel stand neben ihm und lachte. Sie schüttelte den Kopf und sprach:

„Wenn Du mich zuerst gefragt hättest, würde ich ‚ja‘ gesagt haben, denn es ist mein erster Heirathsantrag. Aber das nehmen, was Lea übrig läßt – siehst Du, das mag ich nicht. Wie schade, Onkel Landrath! Denn obenein hab’ ich ein Ideal, und dieses bist just Du.“

„Nun höre einer, wie das Mädchen mich aufzieht.“

„Korb zwei,“ zählte die Baronin.

„Wer wird denn Dein Nachfolger?“ fragte Römpker. „Wenn wir nur kein unangenehmes Element in unsere Gesellschaft bekommen. Denn verkehren muß man mit dem Mann doch.“

„Der Nachfolger? Ja, das ist nun das Allerinteressanteste an der ganzen Geschichte. Lüdinghausen kommt hierher.“

Dabei sah er alle herausfordernd an, als wollte er sagen: „Wundert Euch doch über diese Neuigkeit!“ Aber der Eindruck des genannten Namens war keineswegs der erwartete. Nur der Rittmeister sagte:

„Lüdinghausen? Ist das etwa ein Sohn von dem schlesischen Großgrundbesitzer und Bergwerksbesitzer?“

„Allerdings. Ein einziger Sohn, den indessen besondere Neigung in den Staatsdienst trieb, während er doch als ‚Erbprinz‘ auf seines Vaters Besitzungen wie Gott in Frankreich hätte leben können,“ erzählte Raimar.

„Peinlich,“ sagte Herr von Römpker mit einem hochmüthigen Zug im Gesicht, „solche Söhne von reichgewordenen Emporkömmlingen gefallen sich meist in einem gewissen Protzenthum.“

„Ganz im Gegentheil! Der junge Lüdinghausen soll sehr zurückhaltend sein,“ versicherte Raimar, der aus seinem natürlichen Wohlwollen heraus das Gefühl hatte, als habe er väterliche Fürsorge für seinen Amtsnachfolger zu zeigen.

„Zerbrechen wir uns doch nicht den Kopf über diese unbekannte Größe!“ rief die Baronin heiter aus. „Gefällt er uns nicht, machen wir schweigend Front gegen ihn, und das wird er merken und wieder gehen.“

„Aber meine Gnädige, wie unchristlich!“ sagte der Pastor, ihr freundlich drohend.

„Sollen wir Euch unseren Pastor dalassen, Ihr Römpker- Mädels?“ fragte Raimar. „Soll er Euch bei dem Levitenlesen helfen?“

„Nein, nimm ihn nur mit, Onkel Landrath!“

„Also – auf nach Kreta, meine Herrschaften, und schütteln wir endlich den Staub dieses ungastlichen Hauses von den Füßen!“ mahnte Raimar. Er erwies den beiden Töchtern des Hauses ahnungslos einen großen Dienst, indem er die Sachlage in das Scherzhafte verkehrte.

Indessen verging noch eine weitere halbe Stunde, bis die ganze Gesellschaft Abschied genommen und ihre Wagen bestiegen hatte.

Dann endlich war die Familie allein. Man wußte, daß niemand mehr kommen würde.

Rahel ging mit dem Diener durch die Zimmer, stellte die Ordnung wieder her, lud ihm Bretter mit Tassen und Gläsern auf und bürstete dann noch sorgfältig die Krumen von einer Tischdecke auf eine kleine japanische Schaufel.

Lea stand wieder unbeweglich am Fenster und starrte hinaus.

Herr von Römpker saß in der einen Sofaecke, seine Frau in der andern. Er sah seiner jüngeren Tochter zu und staunte ihre stille Geschäftigkeit an. Das schrieb er ihrem „ungeheuren Phlegma“ zu, über welches er oft gutmüthig gespottet hatte, das ihm zur Stunde aber als eine herrliche Eigenschaft erschien. Denn Lea, die so steinern dastand, die verzehrte sich inwendig vor Erregung, darauf wollte er schwören, und er zitterte nur vor dem Augenblick, wo die „Explosion“ stattfinden würde.

Ach ja, sie waren recht verschieden, seine Töchter. Wenn man aus den beiden hätte ein Wesen machen können, wär’s etwas Vollkommenes geworden. Die eine ruhig, so ruhig bis zur Langenweile; die andere interessant, so interessant, daß es schon unheimlich war. Wenigstens sah er seine Töchter so an. Lea war sehr schön. Als er das dachte, fügte er gleich bei sich hinzu, daß Rahel durchaus nicht häßlich zu nennen sei. Im

Gegentheil, Lea mit ihren unregelmäßigen Zügen fiel mehr durch ihren Gesichtsausdruck, durch das flammende Auge und die stolze Haltung auf. Auch kleidete sie sich mit großem Geschmack, ebenso einfach als vornehm. Rahel hatte edlere Züge und einen ruhigen Blick.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 279. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_279.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)