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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Alt und Jung löst sich ab; den gebrechlichen Großvater die heranwachsende Enkelin, das schulpflichtige Kind seine Mutter. Die Spulräder werden fast nur von ganz jungen oder ganz alten Familienmitgliedern besorgt. Oft ist kein Tisch, kein Stuhl im Raum, die Ofenbank muß beider Dienste thun und für die fehlenden Betten der Ofen selbst eintreten. Ich sah selten mehr als zwei Betten auch in Stuben, wo doch sechs, sieben Menschen jeden Alters zu nächtigen hatten. Ja, wo die Noth einmal seßhaft geworden, da wird bald die bloße Diele zum Lager, oft ohne Kissen und Decken. In diesem Winter, wo schon um Weihnachten vielfach die Kartoffelvorräthe, auch die für die Neusaat bestimmten, aufgezehrt waren und gerösteter Sommerhafer als Ersatz für die sonst doch übliche Cichorie dienen mußte, gab es hunderte von Weberhütten, in denen weder Betten, noch Schuhwerk, noch genügende Kleider zum Ausgehen vorhanden waren. Ich hörte von Kranken, die ungebettet und ungekleidet auf der Diele liegend gestorben. Herr Oberförster Beck auf Tscherbeney bei Cudowa versicherte mir, daß in seinem Bezirk auch gegenwärtig noch viele Kinder und Erwachsene der nöthigsten Kleidung ermangeln, nachdem das Liebeswerk des Pastors Klein doch auch hier die schreiendste Noth gelindert hat. Und doch sind diese Leute darauf angewiesen, ihr Garn vom Garnausgeber an entferntem Orte zu holen und das Gewebe auf verschneiten Wegen durch Sturm und Wetter hinzutragen, wo sie den sauren Lohn für ihre Arbeit empfangen.

Diese Hütten, nie gelüftet im Winter, bald überheizt, bald der Kälte preisgegeben, oft von Menschen überfüllt, mit verklebten Fenstern, faulendem Gebälk in Wand und Diele, mit allen Miasmen schlechter Ausdünstung, auch von Thieren, erfüllt, sind selbstverständlich wahre Brutstätten gesundheitsschädlicher Bacillen. Im Kern gesund ist von diesen Webern kaum einer, auch die jungen kräftigen Männer sind es nicht, die seit Erschließung der Steinbrüche sich an der dort verlangten schweren, aber auch bei weitem besser bezahlten Arbeit betheiligen können. Schwerhörigkeit, frühes Erblinden, Blödsinn, Mißwuchs der Arme und Hände wurden mir von berufener Seite als häufige Erscheinung bezeichnet, und mit Grausen traf ich auch Kretinismus wiederholt an. Sehr viele aber von denen, die ich sprach, hatten die äußeren Merkmale der Schwindsucht. Und selbst da, wo einmal die unverwüstliche Lebenslust der Jugend aus hellen Leichtsinnaugen mir entgegenlachte und das Geständniß der Zufriedenheit über die raschelnden Garnketten am Webstuhl mir entgegenklang, erkannte mein prüfender Blick, daß auch in diese junge Menschenblüthe der Keim zu späterem Siechthum gelegt war. Aber freilich, die Weberschwindsucht gehört auch nicht zum akuten, sondern zum chronischen Nothstand! In der Mehrzahl sich selbst überlassen, siechen die Einödweber unter den verderblichsten hygieinischen Bedingungen dahin. Brave Aerzte helfen ihnen gewiß in schweren Krankheitsfällen, wenn sie von ihnen erfahren; die Vortheile der Krankenkasse sind aber nur von den wenigsten zu erwerben, wie ihnen ja auch die Segnungen der sozialen Arbeiterschutz-Gesetzgebung zur Zeit nicht zu Gute kommen. Auch in dieser großen Hilfsaktion des Staats blieben diese Aermsten der Armen wieder einmal vergessen – vergessen in ihrem vergessenen Winkel ... „Das ist einmal das Schicksal der Weber!“

Es ist wohl kaum nöthig zu sagen, daß es in den kleinen Weberhäusern der großen Ortschaften an der Landstraße, vor allem in dem stattlichen Reinerz selbst, nicht ganz so trostlos aussieht. Verdient zwar auch hier ein guter Weber kaum mehr als 50 Pfennig täglich, also den dritten Theil von dem, was ein fiskalischer Straßensteinklopfer sich verdienen kann, so hat er doch viel leichter feste Beziehungen zu den Garnausgebern und Fabrikanten und braucht seine Zeit nicht zu verlaufen. Im Sommer aber geht ein großer Theil von ihnen auf andere Arbeit, die lohnender ist, wie auch die kräftigen unter den Webbauern der nach Habelschwerdt zu gelegenen Walddörfer im Sommer als Holzhauer ergiebigere Beschäftigung finden. Die Weber aber, für welche dieses Frühjahr die Folgen eines akuten Winternothstandes bringt, für welche gesammelt wurde, sind zu siech und schwach und willenlos, als daß man von ihnen andere Arbeit fordern, sie zu anderer Arbeit erziehen könnte. Ihnen kann nur durch unmittelbare Aufbesserung ihrer Lage, ihrer Wohnart, ihres kleinen Feldbaues im Sommer und vor allem ihres Gewerbes geholfen werden. Es ist kein Zweifel, daß diesmal die Regierung gewillt ist, dem dauernden Nothstand einen dauernden Abschluß zu geben. Es ist dabei nur zu bedauern, daß die Einführung der Jacquardweberei in diese Hütten vom Programm der Regierung gestrichen wurde. Jenseit der österreichischen Grenze hat man durch Errichtung der Webeschule in Nachod und Veredlung der Handweberei durch Ergänzung der Webstühle mit dem Jacquardschen Apparat ähnliche Noth dauernd beseitigt. Dies Beispiel sollte nicht übersehen werden.

Wie aber auch immer das chronische Weberelend in der Grafschaft Glatz von der Regierung gehoben werde: daß die Privatwohlthätigkeit in diesem Winter zur Linderung akuter Noth angerufen worden ist und wirksam eingegriffen hat, war dringend nöthig. Es wurde mir allerseits, wo nicht persönliche Verstimmung oder Rücksichten anderer Art dies hinderten, von Beamten und Bürgern jeder Art, vor allem aber von den Webern der Gegend selbst als eine Gutthat gepriesen, die namenloses Elend von den bedrängtesten Weberfamilien im Heuscheuer-, wie auch im Eulengebirge bei Neurode, abgehalten hat. Was aber die jetzt unterbrochene Gabenvertheilung durch Pastor Klein betrifft, so ist dieselbe als eine musterhaft geregelte zu bezeichnen; über jede Gabe ist Buch geführt worden und niemand erhielt etwas, dessen besondere Bedürftigkeit nicht vorher vom Ortsschulzen amtlich beglaubigt war.

Johannes Proelß. 
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Soweit unser Berichterstatter.

Was Herr Pfarrer Klein in Reinerz geschrieben, was die Erklärung von Amts- und Gemeindevorstehern in der Beilage zu Nr. 14 zu seiner Rechtfertigung gesagt, findet sich durch diese Schilderung in einer Weise bestätigt, die uns aufs neue mit tiefstem Mitleid mit dem Los jener Unglücklichen erfüllt.

Es kann nach diesen Beobachtungen unseres Berichterstatters kein Zweifel mehr darüber bestehen, daß ohne die Thätigkeit des Pastors Klein und ohne die Unterstützung der Presse die Zustände unerträgliche geworden wären, daß sie auch heute noch unmittelbarer, nicht nur organisatorischer Hilfe bedürfen.

Wenn dennoch die opferfreudige, wohlerwogene und wohlgeregelte Privatwohlthätigkeit, wie in diesem Falle, gelähmt und aufgehalten wird, so ist es Pflicht der Presse, dagegen Verwahrung zu erheben. Es ist das Recht derselben, solchen Nothständen, die von elementaren Gewalten über ganze Menschengruppen verhängt werden, als stets bereites Organ der Hilfe zu dienen. Es ist das Recht des Menschenfreundes, der zuerst solchen Nothstand in seiner Bedeutung erkennt, diese Hilfe anzurufen. Es ist das Recht der Hilflosen, in solcher Noth sich an das Mitleid ihrer Volksgenossen zu wenden. Diese Rechte werden wir wahren – in diesem Falle wie immer. Das Bedauerliche aber bleibt, daß durch die geschilderten Angriffe und abschwächenden Darstellungen das Ergebniß der von der Presse angeregten Sammlungen nicht unwesentlich beeinträchtigt worden ist.

Fern hat es uns aber gelegen, mit unserem Hilferufe irgend einem einzelnen Stand, wie den vielfach selbst schwer bedrängten Garnausgebern, die Schuld an dem Elend der armen Weber aufzubürden. Dieses Unglück ist durch Ereignisse beeinflußt, für die einzelne nicht verantwortlich gemacht werden können. Wenn der Aufruf des Herrn Pastor Klein in dieser Hinsicht zu Mißverständnissen Anlaß gegeben hat, so wird dies weit aufgewogen durch die hochherzige Hilfsthätigkeit, welche dieser Mann den armen Webern gewidmet hat. Nach den Beobachtungen und Erkundigungen unseres Berichterstatters ist die Lage der Handweberei in Schlesien heutigen Tages so beschaffen, daß allerdings weder die Fabrikanten noch die Garnausgeber an der Arbeit der Hausindustrie reich werden können.

Die Forderung aber glauben wir zum Schlusse mit allem Nachdruck erheben zu dürfen, daß nun einmal alle Hebel angesetzt werden, um dem Nothstand, ob man ihn „akut“ oder „chronisch“ taufe, ein für allemal ein Ziel zu setzen. Was heißt überhaupt akute, was chronische Noth? Noth tut weh, und es kann den Hunger von heute nicht erträglicher machen, zu wissen, daß dieser Hunger auch gestern und vorgestern und vor einem Jahre, daß er immer vorhanden war. Nur eines ist imstande, den nagenden Schmerz zu lindern, das ist die Gewißheit: die Hilfe ist nahe! Und ausreichende Hilfe ist nach unserer Ueberzeugung nur möglich, wenn die Regierung es nicht verschmäht, Seite an Seite mit der Privatwohlthätigkrit vorzugehen. Die Redaktion.     




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