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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

„Das darf ich nicht. Laß Dir vorerst daran genügen, daß ich es weiß, das Uebrige wirst Du bald erfahren.“

Ihr Athem flog, sie machte sich aus der Umklammerung der erschütterten Freundin los, die vergebens um weitere Aufkärung in sie drang, und ging hinaus. Draußen nahm sie den Vater bei der Hand und sagte: „Jetzt komm Du mit mir nach Hause, Du bist dringend nothwendig dort. Es hat Eile, rasch!“

Sie ließ ihm nicht Zeit, andere Kleider anzuziehen. Auf der Straße erzählte sie stoßweise die Ereignisse der verwichenen Nacht und den Entschluß des alten Herrn von Brennberg, dem Gerichte den ganzen Thatbestand mitzutheilen; er, der Vater, solle ihm Muth zusprechen für den schweren Gang. Und trotz seines Entsetzens über diese Nachrichten, die ja auch seinen Sohn betrafen, sah Margold doch in der Entscheidung Brennbergs auch die Heilung von seinem Wahn.

Als sie in der Brennburg ankamen, ging Berti zuerst allein zu ihrem Schwiegervater, um mit ihm zu sprechen und ihn auf den Besuch des Vaters vorzubereiten. Sie erschrak vor seinem Anblick: die Nacht hatte eine fürchterliche Verheerung angerichtet in diesem Antlitz. Er sprach eben mit Theodor, der Muth schien beide verlassen zu haben vor der nahenden Entscheidung. Sie erklärten Bertha, mit der Anzeige noch warten zu wollen; am Ende würde dieser Bergmann gar nicht verhaftet bei dem Mangel sonstiger Beweise, dann wäre ja die Anzeige ein nutzloses, wahnsinniges Opfer.

Da erzählte Bertha, woher sie kam und was sie gesehen. Die Verhaftung des Schlossers war bereits vollzogen.

Diese Thatsache schmetterte Christian nieder. Jetzt war kein Ausweg mehr, der furchtbare Gang mußte gethan werden, das Schicksal wollte es so.

Da öffnete Bertha die Thür, Margold trat ein, tief gebeugt.

Der Baron schrie auf und wanke ihm entgegen.

Margold ergriff seine Hand und wollte sie nach alter Gewohnheit küssen. Das war zu viel für Christian. Der Geist längst vergangener glücklicher Zeiten umwehte ihn, er brach in Thränen aus und sank dem alten Freund und Diener laut schluchzend an die Brust.

„Muth, Herr von Brennberg, der alte Gott lebt noch, und was Sie jetzt thun, sühnt alles! Sehen Sie dort, über den Bäumen,“ – er deutete zum Fenster hinaus – „die Stadt hat es noch immer nicht aufgezehrt, das gute Schönau. Ich habe so einen Gedanken, es ist mir immer, als warte es auf uns zwei Alte!“

„Du bist grausam, Margold, ich bin ein Bettler.“

„Unsinn, Herr von Brennberg! Es ist ja das erste Mal in meinem Leben, daß mir das Geld eine Freude macht. Ja, jetzt macht es mir eine Riesenfreude, weil ich sagen kann: es langt für uns alle, wenn es auch kein Reichthum ist, und an dem, meine ich, haben wir uns alle, wie wir da stehen, satt gesehen. Also frisch herausgeschnitten die Pestbeule und dann wieder ein bißchen altmodisch! Es brancht dazu nicht den kaffeebraunen Rock und die gelben Stiefel, so lieb sie mir auch waren, aber das alte Herz, die alte Freude an der Arbeit, dann geht es schon! Nicht wahr, Herr Theodor? Habe ich nicht recht? Sind Sie nicht auch dabei? Bertl kann es Ihnen erzählen, es waren gewiß nicht ihre schlimmsten Tage draußen an der Landstraße.“

Theodor reichte dem schlichten Manne schweigend die Hand; er fühlte wohl den edlen Kern dieser Worte, aber er sah die Lösung nicht in so rosigem Licht.

Eine Viertelstunde darauf fuhr der Aufsichtsrath von Brennberg mit Bertha zum Staatsanwalt, um offene Beichte abzulegen.




9.

Das verhängnißvolle Ereigniß im Keller des Stefanellyschen Hauses, welches an jenem Festabend die Tanzenden so erschreckt hatte, war nur der Vorläufer der großen Katastrophe gewesen, deren Opfer eine Woche später die Straßen M...s theils klagend, theils drohend durchirrten. Der Zusammenbruch vollzog sich mit blitzartiger Schnelligkeit und riß alles mit nieder, was in seinem Bereich lag.

Schon die Nachricht von dem Diebstahl in dem Gewölbe Stefanellys während des vielbesprochenen Festes wurde mit sonderbarem Schweigen aufgenommen; man glaubte nicht recht daran und ahnte Schlimmeres. Die weitere Kunde von der Verhaftung des Diebes in der Person eines Schlossers aus der Vorstadt hob wieder die Gemüther.

Da, Mittag war es, zuckte der Strahl, der gefürchtete, und er schlug furchtbar ein. Stefanelly war verhaftet sammt seinem Agenten Margold und dessen Frau, der bekannten Loni. Die Bank war vom Gericht geschlossen und Gendarmen wehrten die tobende Menge von den verschlossenen Thüren ab. Rasch wurde bekannt, daß der in der Frühe verhaftete Schlossermeister als völlig unschuldig wieder entlassen worden war, und von diesem Augenblick an wußte man auch, warum der Stefanelly verhaftet worden war – er selbst war der Dieb!

Die Nacht brach an, was würde der nächste Tag bringen?

Was er bringen mußte: den Zusammensturz der Stefanellyschen Gründungen, eine wahnsinnige Panik auf der Börse mit all ihren schrecklichen Folgen, Jammer, Thränen, Haß, Erbitterung – bei den Vernünftigen aber reuevolle Einsicht, bittere heilsame Erkenntniß des Abgrundes, an dem alles gewandelt und von dem nun die derbe rücksichtslose Faust des Schicksals die Bethörten zurückgerissen hatte.

Das gerichtliche Verfahren gegen Stefanelly, welches von den Behörden möglichst beschleunigt wurde. begann mit der Anklage wegen des Kassendiebstahles, während die schwierigen und verwickelten Erhebungen über die schwindelhaften und betrügerischen Gründungen ihren Fortgang nahmen. Es mußten dabei unerhörte Dinge zu Tage kommen; jeder wußte, daß sich ein in den grassesten Farben gemaltes abschreckendes Bild der Zeit entrollen werde, daß in diesem Prozeß die ganze entartete Gesellschaft auf der Anklagebank saß.

Jeden Tag erhöhten neue Gerüchte die gespannte Erwartung. Der Rath Stürmling, der in der letzten Zeit offenkundig zum Agenten Stefanellys geworden war, verschwand spurlos – es hieß, er habe sich erschossen. Minister Graf Derwitz erhielt plötzlich seinen Abschied.

Der Name des Aufsichtsrathes Brennberg, gegen welchen ebenfalls Anklage erhoben wurde, war in aller Mund. Er sollte den Stein ins Rollen gebracht, den unschuldigen Schlossermeister durch seine offene Aussage befreit haben.

Endlich brach der Tag des Gerichtes an, des lang erwarteten, von vielen gefürchteten Gerichtes.

Alle Arbeit ruhte, stumm, wie in sich selbst verkrochen, lag M.... da, von Gewissensschauern geschüttelt. Nur um das Gerichtsgebäude wogte eine stürmisch bewegte Volksmasse.

„Räuber! Spitzbuben! Gebt den Raub heraus!“ tönte es wild durcheinander und geballte Fäuste hoben sich drohend gegen die Fenster des Gerichtssaales.

Diesen füllte eine dichtgedrängte Menge aus allen Ständen. Männer und Frauen, Betrogene mit verweinten Augen, begierig, jede Masche des Netzes zu sehen, in dem sie sich gefangen hatten, Neugierige, die nur die Sucht nach Aufregung und Nervenkitzel hergetrieben hatte.

Alles starrte auf die noch unbesetzten grünen Tische mit den bereit liegenden Akenbündeln, aus denen endlich der Sieg der Wahrheit und des Rechts über die Lüge und das Unrecht sich entwickeln sollte.

Eine schwüle lautlose Stille herrschte. Ein jeder fühlte an sich selbst das Messer des Arztes, das ihn befreien sollte von jahrelangen Gebresten.

Die Angeklagten betraten den Saal. Zuerst Stefanelly, ein höhnisches Lächeln um die bleichen Lippen, von dumpfem Brausen empfangen, das sich lawinenartig fortpflanzte bis auf die Straße. Dann eine gebeugte Gestalt, der Aufsichtsrath Brennberg; weiter ein junger Mann in auffallender Kleidung, mit scheuem Blick und kränklichem Aussehen, Hans Margold, der Agent. Zuletzt, kokett gekleidet, einen frechen Blick über den ganzen Saal werfend, die gefeierte Loni, die Königin all der üppigen Feste des Hauses Stefanelly, die verkörperte geschminkte Lüge, die ausgesprochene Vertreterin der morschen, zerfressenen Zeit.

Ein Gemurmel des Unwillens empfing sie.

Dann nahm das Richterkollegium Platz am erhöhten Tische, in der Mitte des Saales, zur Seite die Geschworenen; die Wichtigkeit des Augenblicks, das Gefühl, Gericht zu sitzen über ihre Zeit – und damit vielleicht auch über sich selbst – lastete sichtlich auf ihnen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 268. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_268.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)