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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Sekunden in dem Stübchen. Es war hier stets dämmerig; das einzige Fenster lag in der tiefen, durch dicke Wände gebildeten Nische, und eiserne Gitter spannten sich davor. In der Ecke leuchtete der kleine amerikanische Ofen. Antje stand am Schreibtisch im düsteren Trauerkleid, mit blassem, entschlossenem Gesicht.

„Darf ich Sie um einen Freundschaftsdienst bitten?“ fragte sie.

Er verbeugte sich.

„Sie wissen vielleicht schon von Leo, daß – –“ sie wandte das Gesicht von ihm ab; es war so entsetzlich schwer, es nur auszusprechen, und sie vermochte es nicht – – „Er hat Ihnen nichts mitgetheilt, Herr Doktor?“

„Ich habe keine Ahnuttg, gnädige Frau, was Sie meinen,“ erwiderte er und betrachtete verwundert die am ganzen Körper zitternde Gestalt.

„Leo und ich werden uns trennen,“ stieß sie hastig hervor.

„Das ist nicht möglich, Frau Jussnitz,“ sagte er sehr ruhig.

„Doch! Ja! Ich sehe es ein, die Frau eines Künstlers soll anders sein als ich, nicht so prosaisch, so schrecklich unbedeutend – Maiberg, ich weiß, daß Leo unter diesen meinen Eigenschaften leidet, weiß es aus seinem eigenen Munde – er liebt mich nicht. Sie ist furchtbar, diese Gewißheit, aber doch leichter zu tragen als das Leben in letzter Zeit. Maiberg, sagen Sie nichts, ich bitte Sie; versuchen Sie nicht, mir einzureden, es walte ein Mißverständniß ob,“ fuhr sie fort, „führen Sie mich nicht aufs neue in den Kampf, aus dem ich kaum als Siegerin hervorgegangen bin. – – Was ich von Ihnen will – Sie sind ja Leos Freund – ist nur das eine, bitten Sie ihn in meinem Namen, daß er noch heute abend abreist; ich ertrage es nicht, ihn länger hier zu wissen, es ist unter diesen Verhältnissen unmöglich. Sagen Sie ihm, daß er seiner ‚Kette‘ ledig ist, schon jetzt; sagen Sie ihm, daß er es auch vor der Welt werden soll, sobald die erste tiefe Trauerzeit um Mama vorüber ist; ich und auch er sind es ihr schuldig, diese heilige Zeit nicht mit einem Ehescheidungsprozeß zu entweihen.“

„Darauf war ich nicht gefaßt,“ entgegnete Maiberg finster.

„Aber ich kann nicht anders handeln, ich kann nicht!“

„Und was soll aus Leo werden, wenn Sie ihn verlassen?“

„Ein glücklicherer Mann als bisher, ein großer Künstler, Herr Dokor!“

„Gnädige Frau,“ sagte er, „Sie sind überreizt, sind im höchsten Grade nervös; beruhigen Sie sich, ich werde Leo fortschicken. Bleiben Sie hier, erholen Sie sich, fassen Sie frischen Muth, und eines Tages werden Sie die trüben Gedanken bannen und mit neuer Freudigkeit die allerdings nicht gerade leichte Aufgabe, Leos Frau zu sein, übernehmen. Aber – –“

Ein unbeschreiblich trauriges Lächeln zog um ihren Mund. „Niemals!“ klang es leise und bestimmt. „Ich bleibe hier, muß hier bleiben - seine und meine Wege sind getrennt für immer. Aber ich möchte, Herr Doktor, daß Sie ihm sagten, ich hätte, so lange ich ihn kenne, an nichts anderes gedacht als an sein Glück - doch nein!“ unterbrach sie sich, „sagen Sie ihm das letzte nicht, weshalb auch?“

„Gott weiß, ob Sie das Richtige thun!“ erwiderte Maiberg.

„Gehen Sie,“ bat sie, „gehen Sie! Wenn er den Abendzug noch erreichen will, so muß er bald fahren.“ Sie setzte sich, als verließen sie plötzlich die Kräfte, auf den Schreibstuhl vor dem Arbeitstisch.

Mit einem langen ernsten Blick auf sie verabschiedete sich der junge Arzt. Er hatte das bestimmte Gefühl, daß zwischen diesen beiden Menschen alles aus sei, daß diese sonst so sanfte duldsame Frau nicht anders handeln könne. Was aber, um Gotteswillen, war geschehen? Hildes Bild trat ihm einen Augenblick vor die Seele, aber er wies den Gedanken, der sich mit ihm verband, voller Entrüstung zurück. Sie war tollköpfig, kokett, ungezogen und leidenschafllich, aber – –

„Wo ist Herr Jussnitz?“ fragte er ein Hausmädchen, das über den Flur ging mit einem Tablett, auf dem Weingläser standen.

„Herr Jussnitz ist nach der Testamentseröffnung in sein Zimmer gegangen, seitdem habe ich ihn nicht gesehen.“

Maiberg suchte ihn daselbst, aber vergebens. Leos elegante Toilettengegenstände lagen wie immer in genialer Unordnung umher, auch ein Skizzenbuch fand sich darunter, und in der Ecke neben dem Ofen lehnten Feldstuhl und Malerschirm. Der Koffer, der dort mit aufgeklapptem Deckel stand, war von ziemlicher Größe, so, als ob sein Besitzer an einen längeren Aufenthalt gedacht hätte. Maiberg wußte zwar, daß Leo seit seiner Verheirathung es als unmöglich betrachtet haben würde, mit einem Ränzel auf dem Rücken eine Studienreise zu machen; dazu war er zu vornehm geworden und zu verwöhnt. Aber trotzdem war ihm die Anwesenheit dieser Gegenstände doch eine Beruhigung; er wenigstens schien hiernach nicht unversöhnlich gestimmt zu sein. Oder hatte er keine Ahnung, daß diese „unbedeutende Frau“ denn doch ein Herz besaß, und neben diesem Herzen – Willen und Kraft und gerechten weiblichen Stolz?

Maiberg suchte den Freund im ganzen Hause, dann im Garten, endlich kehrte er wieder zurück. In der Wohnstube saß die Trauergesellschaft bei einem einfachen Abendimbiß; die beiden alten Tanten hatten rothgeweinte Augen trotz ihrer Freude über die hübsche kleine Erbschaft, die es ihnen ermöglichte, die Hundesteuer für den geliebten Moppel ohne ängstliche Berechnung und ohne sich einer allzu großen Verschwendung zeihen zu müssen, aufzubringen. Sie hielten sich bei den Händen und priesen die Verstorbene in allen Tonarten. Auch hier hatte niemand den Begehrten gesehen.

Maiberg lugte sogar ins Kontor, aber da stand Herr Kortmer an seinem Pult noch im feierlichen schwarzen Anzuge und schrieb. Als er Geräusch hinter sich hörte, wandte er sich um, und den jungen Arzt gewahrend, sagte er verlegen: „Hab’ nur die Anzeige der Firmenveränderung aufgesetzt, Herr Doktor; – muß sofort gedruckt werden.“

„Was?“ fragte Maiberg, „ist durch das Testament die Hütte etwa in andere Hände – –“

Ueber die Züge des alten Herrn blitzte es wie ein Sonnenstrahl durch trübe Wolken.

„Wir werden fortan zeichnen ‚Christoph Gottlob Freys Nachfolgerin‘. – Nun, wer ist diese Nachfolgerin, Herr Doktor? Unser Kind ist’s! Hätten Sie sie gesehen, wie sie vor dem Notar stand und ganz einfach und bestimmt sagte: ‚Ich bleibe hier!‘ rief sie. Da liegt Charakter drin, Selbständigkeit, das ist die echte Frey, und glauben Sie mir, das will etwas heißen für unser Geschäft.“

„So? Frau Antje wird Chef?“

„Frau Antje ist Chef! –“

„Können Sie mir nicht sagen, wo Jussnitz zu finden ist?“ fragte Maiberg.

„Herr Jussnitz? Hm! Es waren gerade keine angenehmen Dinge, die für ihn in dem Testamente standen. – Na, er konnte nichts anderes erwarten, Herr Doktor, die Selige hat kaum sterben können vor Sorge um seinetwillen. Aber Sie wollen wissen, wo er ist? Meine Zeit, wo wird so ein Herr sein? Spazieren gegangen wird er sein, Stimmungen und Beleuchtungen studieren, im Walde, am Fluß hinauf, ich weiß es nicht, denke es aber.“ Und wieder griff er zu dem Entwurf. „Wir werden künftig zeichnen ‚Christoph Gottlob Freys Nachfolgerin‘!“

Maiberg nickte dem alten Herrn zu; es war ihm plötzlich eingefallen, Jussnitz könnte in der Kinderstube sein. Immer zwei Stufen mit einem Male nehmend, erstieg er die Treppe und pochte bald darauf an die Thür, hinter der er die Kleine und Hilde von Zweidorf wußte.

„Herein!“ scholl es leise, und er öffnete. Es war beinahe finster in dem Zimmer, wenigstens erschien es ihm so, da er von dem erleuchteten Flur kam.

„Sind Sie hier, Fräulein von Zweidorf?“

„Ja!“ scholl es aus der Sofaecke, „treten Sie leise auf, die Kleine schläft.“

„Und was thun Sie in dieser Dämmerung?“

„Ich gräme mich – ich will fort!“ antwortete sie in ihrer abweisenden Art.

„Wohin?“

„Irgend wohin, nur fort von hier!“

„Es hält Sie ja niemand,“ sagte er.

„Nein – aber ich kann ja nicht, wie ich will. Bitten Sie Frau Jussnitz, daß sie mich reisen läßt.“

„Irgend wohin!“ sprach er leise; es klang so traurig. „Wissen Sie,“ fragte er dann, einer plötzlichen Eingebung folgend, „wissen Sie auch, daß Frau Jussnitz hier bleiben wird für immer?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 263. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_263.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)