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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)


Wie das so geht: in diesem Augenblick läßt das Schneetreiben nach, goldiges Sonnenlicht bricht in das Flockenwirbeln. Heinz sieht die Amsel, sie sitzt auf einem Baume.

Auf dem alten Aprikosenbaume!

Vor ihm malt sich plötzlich ein Bild hin mit der Unterschrift: Frühlingsidylle. Ein so süßes Bild, daß man ein Eisklumpen von Gefühllosigkeit sein müßte, um nicht stehen zu bleiben und das Herz aufspringen zu fühlen.

Eine Mauer, darüber aufragend ein alter Aprikosenbaum, um und um blühend wie mit Rosen auf den blatkahlen Zweigen – auf einem der blühenden Zweige die Schwarzamsel mit dem orangegelben Schnabel. Durch den Baum, um die Schwarzamsel her wirbeln lustig die weißen Flocken, und die Schwarzamsel pfeift dazu, so hell, so flötenweich, so aus voller, frühlingsseliger Brust ...

Dazu Glockenläuten!

Heinz bleibt stehen ... seine Brust ist in Aufruhr, und das steigert sich – nicht zu beschreiben. Ein Sturm von Liebe und Glückseligkeit durchtobt sein Inneres; er kehrt das Unterste zu oberst, es ist an gar keinen Widerstand zu denken! Da ist ein Baum, drin jubelt die Liebe: Die Flocken stäuben, aber ich bin Sieger; der Frost umhaucht mich, aber die selige Brautzeit ist da: was da läutet, sind Auferstehungsglocken, ich weiß es ... ich weiß es ... denn der alte Aprikosenbaum blüht. Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden! Was ist so süß wie ich?

Heinz wird’s weich ums Herz. Was ditt ich für ein Narr! Ich liebe sie nicht mehr? Ich? Da oben sitzt sie vielleicht am flockenverschneiten Fenster und schaut nach mir aus, mit dem blassen zarten Mädchengesicht, mit den großen dunklen Augen und dem süßen Munde ...

Weil es in mir winterte, habe ich den Frühling aus meiner Rechnung gestichen? Als ob es kein Ostern gäbe!

O, ich überkluger Narr – ich liebe sie nicht mehr?

Er stürmt vorwärts, um das Haus herum, er reißt die Thür auf – kaum nimmt er sich Zeit, den Schnee vom Ueberrock zu schütteln. Auf der Treppe begegnet ihm der Musikus, die frischgeputzte Posaune im Ueberzug unter dem Arm. Er sieht Heinz mit großen Augen an, finster und fragend ...

„Ich muß zu Edith, ... Herr Sonnemann ...“

Heinz ist vorüber, und der andere bleibt murrend stehen, zaudernd und mit sich kämpfend; aber er muß ja fort, es ist hohe Zeit, daß er sich in die Kirche verfügt. Das Amt geht vor, er ist im Orchester unentbehrlich.

Heinz klingelt oben – die Mutter öffnet. „Ach, Herr Tausing ...“

„Ich muß zu Edith – sie ist drinnen, nicht?“

Er wartet gar keine Antwort ab. In der Stube ist Edith aufgesprungen vom Fenster, sie hat seine Stimme gehört. Sie will nicht flüchten, sie haßt ihn plötzlich nicht mehr, ein Frühlingsrausch überfliegt sie, durchschüttelt sie ...

„Edith, Edith“ ... „Heinz“ ... er hat die Arme ausgebreitet und sie auch, und nun schluchzen sie beide und ihre Thränen fließen ineinander.

„Sprich nichts – gar nichts,“ haucht sie, „ich will nicht wissen, wie es gekommen ...“

„Edith, unten auf dem Aprikosenbaum, mitten im Flockentreiben, sang die Amsel,“ stammelt er. „Ich mar todt, und nun bin ich auferstanden.“

Die Glocken läuten nicht mehr. Es ist still um sie, die Sonne scheint ins Fenster, und in der Thür steht schweigend die Mutter.

*  *  *

„Onkel,“ sagt Doktor Heinz Tausing, „entschuldige, daß ich so spät komme. Weißt Du, wo ich war?“

„Wo es fidel war, denn Du siehst höchst vergnügt aus. Oder etwa in der Kirche? Du hast nebenbei so etwas Frommes an Dir.“

„Beinahe,“ sagt Heinz. „Ich war bei Edith, und nun kannst Du mich hinauswerfen, wenn Du Lust hast.“

Ein kurzer Blick mitleidigen Entsetzens. „Unglaublich, aber wahr!“ bringt endlich der so über alle Möglichkeit hinaus Enttäuschte langsam hervor. „Und gestern ganz auf der Höhe! Na, da liegt wirklich Charakter drin. Sag’ mal: Du bist wohl sehr zugänglich für Witterungseinflüsse?“

Heinz ist doch etwas pikirt über die boshafte Stimmung des Onkels; seine Antwort kingt gereizt.

„Na, soviel weiß ich, mein Junge, in meinem ganzen Leben rathe ich keinem Menschen unter fünfunddreißig Jahren wieder zur Vernunft ... Hm, hm, also verlobt ... Heinz, offen und ehrlich gesagt: fühlst Du Dich jetzt glücklich, bist Du durchdrungen davon?“

„Unbeschreiblich.“

„Glaubst Du, daß dies Glück anhalten wird in der Ehe? Ich denke, Du hattest alles Gefühl für das Mädchen verloren, seit Du es nicht mehr zur Hand gehabt? Und das war Dir doch ein Beweis, daß Deine Liebe nicht echt war?“

„Onkel, zu Ostern stehen die Todten auf! Nein, ich will anders reden; ich weiß es jetzt: ich habe von der Liebe etwas verlangt, was man nicht von ihr verlangen kann. Es ist naturwidrig, zu fordern, daß ein leidenschaftlich gesteigertes Empfinden sich ohne Anregung von selbst auf der Höhe halten soll. Ein jedes Feuer erlischt, wenn ihm alle Nahrung verweigert wird. Und das habe ich grundsätzlich gethan, habe selbst meiner Phantasie verboten, Holz zuzutragen. Ich habe nicht meine Liebe auf die Probe gestellt – ich habe sie systematisch umzubringen versucht!“

„Das scheint Dir aber richtig mißlungen zu sein. Also Du glaubst, sie wird Dich dauernd glücklich machen, diese Edith?“

„Ja – ja – ja!“

Der Onkel wanderte dreimal auf und ab; endlich blieb er mit eingekniffenem Auge vor Heinz stechen und legte ihm gemüthlich die Hand auf die Schulter.

„Ja? – Na dann sollst Du meinen Segen, und Deine Braut eine anständige Aussteuer haben.“




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_219.jpg&oldid=- (Version vom 30.8.2023)