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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

hatte eine andere Meinung von ihm und gebe sie auch jetzt noch nicht auf.“

Der Musikus stieß ein spöttisches Murren aus.

„Mich lehrt die Studenten kennen! Das ist müßiges Volk, die möchten gern etwas fürs Herz haben, machen den Mädels was weis, und wohl sich selber auch – auf den Augenblick meinen es ja manche ganz ehrlich ...“

„Manche auch länger,“ schaltete die Mutter kopfnickend im selben Tonfall ein.

„Auch! – Habe gar nichts dagegen. Aber das sind weiße Raben; ich mißtraue jedem, und es wäre besser gewesen, Ihr hättet dasselbe gethan, dann brauchte das Mädel jetzt nicht herumzusitzen und zu flennen; aber gegen Euch Weiber kommt keine Vernunft auf.“

„Du hast wohl nöthig, hinterher, wo nichts mehr zu ändern ist, dem Kinde mit übler Laune das Herz noch schwerer zu machen, statt ihr gut zuzureden.“

Sie sagte das nicht heftig. Sie hatte doch etwas Gedrücktes, wie eine Art Schuldgefühl, an sich. Edith schwieg – der Musikus schwieg gleichfalls und rieb mit gleichmäßiger Bewegung sein Instrument, das morgen in der Nikolaikirche sollte Ostermusik machen helfen.

„Sonderbar ist’s doch,“ brach die Mutter das Schweigen. „Wie seid Ihr zwei denn zuletzt auseinandergegangen? Habt Ihr Euch gar nicht ausgesprochen, Ditha?“

Edith schüttelte mit dem Kopfe. „Es war ein Abschied wie immer; er meinte: ‚Hoffentlich auf Wiedersehen gegen das Frühjahr hin.‘ Ich sagte ihm: ‚Du schreibst mir doch?‘ Darauf küßte er mich, antwortete aber nichts. Doch nun ist’s gut und vorbei, und nun laßt mich’s vergessen! Ich will schlafen gehen, das ist das beste.“

Sie sprang auf und reichte den Eltern nach einander die Hand. „Gute Nacht!“ – dann ging sie auf ihr Zimmer, nahm da im Dunkeln ein Tuch um die Schultern und setzte sich an das Fenster.

Ihr Gesicht suchte den Himmel, der war voller Sterne; und der Wind draußen gebärdete sich wie ein wilder Thauwind: das zog aus allen Fugen, und dann und wann fauchte oder heulte es und machte die Flügel im Rahmen schüttern. Sie hielt die Augen starr offen, bis sie thränensatt waren, dann neigte sie rasch den Kopf und ließ ihn auf die über dem Fensterbrett gekreuzten Arme sinken.

„Treuloser ...“ sagte sie vor sich hin.

Das war ein Wind, just wie damals! Nur wenig später die Jahreszeit ... eine jener kleinen Gesellschaften, wie sie unter der Bürgerjugend größerer Städte sich zahlreich bilden, hatte einen Landausflug gemacht, gescherzt, getanzt. Sie mit, und er auch. Ein Jugendbekannter von ihm, der Mitglied war, ein Photograph, hatte ihn bereits im Winter eingeführt, damit er in einer Liebhabertheater-Vorstellung mitwirke. Er hatte Edith schon nach der ersten Umschau bevorzugt.

Und in jener Mainacht waren sie beide Arm in Arm heimgekehrt, die Eltern immer fünfzig Schritt hinter sich lassend ... wenig redend, thörichte gleichgültige Worte. Eine so dunkle, dunstige Mainacht mit sausendem Wind! Das Tuch flog ihr immer von der Schulter; er nahm es und schlug es auseinander: ein so großes Tuch. weit genug für zwei ... und sorglich legte er es um sie beide und schlang seinen Arm um sie. Sie bebte und er bebte; sie hatte eiskalte Hände, sie fühlte es, und sah ihn an ... und er sah sie an ... ein paar Zoll Luft waren noch zwischen ihnen, und die waren leicht übersprungen.

Ach ja, das war eine Nacht, ein Weg!

Er kam am andern Tag, nach ihr zu fragen, und die Mutter lud ihn ein, zuweilen den Abend zu kommen. Studenten sind so kurzweilige Herren! Aber er kam nur selten – der Vater sagte ihm ohne Worte, daß er kein Gefallen an den Besuchen fände. Sie sahen sich dennoch oft ... bei dritten oder in größerer Gesellschaft; dergleichen ließ sich veranstalten.

„Ach Gott, wär’s doch nie gewesen!“

Aber es war eben doch gewesen!

Einen Winter lang hatte er sich nun vor ihr versteckt, ohne Abschied fürs Leben, ohne Aufklärung ... nie konnte sie ihm schreiben, das war doch zuerst seine Sache! Daß er nicht krank ist, weiß sie von dem Photographen, dem er geschrieben hat ... nun ist er wieder hier, seit Wochen, sie weiß es, und sie sind einander nie begegnet, und er ist nicht zu ihr gekommen!

Er kann jetzt heirathen, jetzt muß er sich entscheiden ... ah, er hat’s ja schon gethan, er hat sich gegen sie entschieden, sie fühlt es, trotz der Hoffnungen der Mutter. Manchmal hofft sie wohl auch plötzlich; aber dann zuckt es wieder schmerzvoll durch ihre Seele: „Nein! es ist nicht möglich.“

„Nicht möglich mehr.“

Sie fröstelt schaudernd zusammen, nimmt das Tuch fester um, erhebt sich sacht und blickt in das kleine Gärtchen hinunter.

Da sieht man über die niedrige Mauer, sieht die Straße mit den nächsten Gaslaternen, von denen die eine ihr Licht auf den großen Aprikosenbaum im Garten wirft. Ein guter alter Bursche das, der jedes Jahr pünktlich seine Last trägt!

Seit zwei Tagen sind die Blüthen aufgesprungen, karminrothe Blüthen über und über. Das junge Mädchen späht unwillkürlich durch die feucht überhauchten Scheiben, ob sie die Blüthen im Laternenlicht zu erkennen vermag, und sie glaubt, daß sie dieselben sieht.

Dann blickt sie wieder zum Himmel, und der ist stark verschleiert. All die Sterne fort!

„Meinethalben,“ sagt sie. „Es mag immer ein dunkles Ostern werden. Mein Glück ist begraben ... das weckt kein Ostern auf. ... Ja – ja, es soll begraben sein! Es soll nicht wieder aufwachen! Auch wenn er wirklich noch käme.“

In diesem Augenblicke haßte sie Heinz.

*  *  *

Die Osterglocken läuteten so feierlich in der Früh, das erste Läuten zur Vormittagskirche. Himmel und Erde sonnig; und vorhin war’s auch warm, aber jetzt streicht eine so kalte dicke Luft, eine recht frostige Luft.

Heinz hatte schlecht geschlafen und war dabei, mit einer Morgenpromenade seine Lebensgeister aufzufrischen.

„Paßt auf, es wird gleich schneien,“ rief einer von zwei Leuten, die sich in seiner Nähe begegneten. dem andern zu. Und plötzlich donnerte es ein wenig!

„Das Wetter weiß auch nicht, was es will,“ denkt Heinz, fast verächtlich. Er freilich, er weiß genau, was er will. Er weiß zum Beispiel ganz bestimmt, daß er die hübsche Edith einem Würdigern überlassen wird.

Wahrhaft unheimlich ist das doch, wie gleichgültig er bei dem Gedanken an sie sein kann! Nicht gerade immer; zum Beispiel im Augenblicke klingt ihm etwas im Ohr, was sie ihm einmal mit ihrer süßen Stimme gesagt hat: „Willst Du mir den Laufpaß geben? Dann muß ich weinen.“ Etwas so Gewöhnliches ... man muß aber gehört haben, wie sie das sagte; so raffinirt wie eine kleine geschickte Schauspielerin!

Und sie ist doch gar keine Schauspielerin von Natur, sondern ein klares, munteres, natürliches Mädchen. Eben diese Klarheit ohne Mache und Phrase läßt den Reiz des Weiblichen bei ihr ganz unverkürzt wirken. Im Grunde braucht ein „höherer“ Schulmeister sich keineswegs ihrer zu schämen, wenn er sie heirathet; es giebt genug unbedeutende und dabei viel reizlosere Lehrersfrauen ...

Aber es ist doch nicht nöthig, Edith zu heirathen! Man kann gleichgültig werden, wenn man fern von ihr ist; das ist ein sichrer Wink der Natur: thu’s nicht!

Er ist ja auch entschlossen, es zu unterlassen.

Heinz ist in die Nähe des Hauses gelangt, in welchem Edith wohnt, und der Gedanke reizt ihn, den Weg durch diese Straße – um die Ecke dort – zu wählen. Eine Wolke, ein einzelner grauer Koloß mit blendend weißen Rändern und weißen Ballenhäuptern, schwimmt über ihm, überschattet ihn, und im Augenblick beginnt sie, Flocken niederzustäuben ... er thut wohl daran, auf dem kürzesten Wege heimzukehren.

Ein kurzes Besinnen noch, die Flocken vermehren sich, dichter, dichter, es wirbelt und kreiselt um ihn mit einem Hauch wie von Gletschern.

Vorwärts, man wird ihn nicht sehen! In dieser beweglichen wirbelnden Verschleierung kann er ruhig am Hause vorüber wandeln.

Er biegt starken Schrittes in die Straße. Wie das lustig weiter schneit! Da ist die Gartenmauer, und er hat Herzklopfen.

Ei – vom Garten her pfeift es. Das ist eine Amsel.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_218.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)