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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)


schritt eilig zurück, es zu holen. Hausgang und Treppe waren bereits erleuchtet, und sie sah den Diener mit einem Packet Zeitungen und einigen Briefen kommen.

„Etwas für die gnädige Frau,“ meldete er, und rasch heraufeilend, übergab er Antje einen Brief.

Es war ein großes Schreiben mit kaufmännischer Schrift. Sie erkannte sofort die Hand Kortmers, des alten Werkführers der Hütte und langjährigen Freundes ihres Hauses.

Da er sonst seine Grüße immer nur durch die Mutter sandte, war Antje durch dieses Schreiben etwas befremdet. Sie trat rasch zu der Lampe, die von einem riesigen Bronzeneger getragen wurde, öffnete den Brief, las ihn hastig und ließ dann die Hand, die das Blatt hielt, sinken, einen Ausdruck qualvoller Angst im Gesicht. Ganz willenlos lenkte sie ihre Schritte wieder nach dem Atelier, in dem Gedanken, ihr Mann könnte vielleicht indessen gekommen sein.

„Leo!“ rief sie und lauschte; ihre vom Licht geblendeten Augen konnten in der tiefen Dämmerung nichts unterscheiden.

Keine Antwort. – Sie tastete sich nach dem Sessel, in dem sie vorhin geruht hatte, setzte sich, stand wieder auf, that ein paar Schritte zum Fenster und starrte in den Garten hinunter. Die Rasenplätze lagen gleich dunklen Schatten und die weißen Kieswege leuchteten daraus hervor wie breite geschlängelte Bänder. Im Westen schimmerten durch schwarzes Gewölk noch einige grell gelbe Streifen, unheimlich und feierlich. wie die alten Maler den Himmel auf den Kreuzigungsbildern darzustellen pflegten.

Ueber dem Bette der Mutter daheim hing solch ein Bild; Antje sah es in diesem Augenblick greifbar deutlich vor sich, und sie sah in den weißen Kissen ein fieberglühendes Gesicht, sah Augen, die wie um Linderung bittend sich zu dem Heiland emporwandten und von dort suchend umherblickten nach dem einzigen, was die Frau noch an diese Welt fesselte, nach der Tochter.

„Wo bleibt er? Mein Gott, warum kommt er nicht?“ – Um zehn Uhr ging der Schnellzug unten an der Station ab; wollte sie ihn noch benutzen, so war keine Zeit mehr zu verlieren.

Sie ermannte sich und suchte ihren Schlüsselkorb; dort auf dem großen Schreibtisch Leos stand er. Sie wollte gehen, einiges zusammenzupacken für die Reise. Die Kinderfrau war zuverlässig und die Classen ebenfalls; es würde alles seinen Gang gehen ohne sie – alles – ja!

Unhörbar schritt sie über den Teppich und blieb dann betroffen stehen – drüben war eine Thür gegangen.

„Auf Wiedersehen, Hildegard,“ klang es weich, „ruhen Sie sich gut aus, die Füße werden Ihnen wehthun nach dem weiten Marsche – auf Wiedersehen bei Tische!“

Eine Antwort erfolgte nicht, Leo hatte die Thür geschlossen. Es waren eben nur noch so ein paar Worte gewesen, die er ihr gesagt, als sie in ihr Zimmer eintrat.

Jetzt öffnete sich auch schon die Thür des dunklen Ateliers. „Leo!“ sagte die junge Frau laut.

„Wer ist’s? Was, Du bist hier?“ fragte er. „Warum hast Du kein Licht, man kann sich ja zu Tode erschrecken! Wo sind denn die Streichhölzer – kannst Du nicht wenigstens die Klingel finden?“

„Leo, nur ein Wort,“ unterbrach sie ihn hastig, „ich erhielt eben durch Kortmer die Nachricht, daß die Mutter schwer erkrankt ist – ich möchte natürlich hinfahren – bald – gleich – Du wirst doch nichts dagegen haben, Leo? Ich ängstige mich, sie muß sehr krank sein.“

Leo hatte inzwischen ein Streichholz entzündet und brannte bedächtig die Kerzen eines großen Armleuchters an. Sein Gesichtsausdruck war der eines sehr unangenehm überraschten Menschen.

„Du kannst doch nicht so plitz platz abreisen!“ sagte er langsam.

„Um Gotteswillen, Leo! Kortmer schreibt, die Mutter liege seit vorgestern ohne Besinnung!“

„Nun, heute wird’s ihr wahrscheinlich schon wieder viel besser gehen; die Nachricht ist ja mindestens zwei Tage alt.“

„Leo, ich bitte Dich! Ich habe eine so große Herzensangst – sie hat niemand weiter wie mich – –“

„Die alte Hanne ist ja dort,“ beharrte er eigensinnig. „Du kannst unmöglich das Haus verlassen wollen – jetzt! Du vergißt, daß Du eine junge Dame zum Besuch hast, die nicht wohl allein bei mir bleiben kann.“

Antje stand und sah ihn an mit großen erstaunten Augen. „Und um dieser Fremden willen soll ich meine kranke Mutter im Stich lassen?“ fragte sie leise.

„Du scheinst kein Verständniß für die Sachlage zu haben,“ erwiderte er und begann im Zimmer auf und ab zu wandern. „Gehst Du, so ist Hilde gezwungen, ebenfalls noch heute abend abzureisen, und wo soll sie denn hin? Bitte, beruhige Dich, morgen werde ich an den Arzt telegraphiren, und wenn sich der Zustand Deiner Mutter noch nicht gebessert hat, nun so ist es ja immer noch Zeit, ein Arrangement zu treffen.“

Sie wandte ihm den Rücken und ohne ein Wort zu sprechen, schritt sie der Thür zu.

„So warte doch!“ rief er heftig. „Du faßt die ganze Sache wieder falsch auf,“ fuhr er fort, als sie stehen blieb. „Du weißt doch, daß sich seit dem Weihnachtsabend bei Barrenberg die Leute den Mund zerreden über das arme Mädchen. Gehst Du jetzt, so heißt’s natürlich, Du verläßt mich, weil – – Ach, Donnerwetter, mache doch nicht ein so erbarmungswerthes Gesicht, Du verstehst ja doch, was ich meine!“ schloß er ärgerlich „Es ist zu albern, aber – schließlich, man lebt in der Welt und muß sich nach ihr richten.“

Antje zuckte unmerklich die Schultern und ging.

Er sah ihr finster nach und ließ sich in einen Stuhl fallen, den nämlichen, in dem Antje vorhin gesessen hatte; es war ihm im höchsten Grade unbehaglich in diesem Augenblick, so todtenelend wie eben hatte seine Frau noch nie ausgesehen.

Aber, lieber Gott, welche Frau ist so gestellt, daß sie gleich auf und davon gehen kann, wenn daheim etwas passirt? Und Antje konnte nicht fort und durfte nicht fort, es war unmöglich, gerade jetzt!

Leo bückte sich nach dem Schreiben, das ihr entfallen war. „Ich möchte Sie nicht ängstigen, verehrte Frau,“ las er, „aber ich halte es für meine Pflicht, Ihnen diese Nachricht zu schicken, im Falle eines schlechten Ausganges, den Gott verhüten wolle. Ihre Frau Mutter liegt seit einigen Tagen recht schwer danieder. Wenn es Ihnen möglich ist, so kommen Sie. Daß Ihre Frau Mutter selbst Schlimmes befürchtete, beweist der Umstand, daß sie gestern nach den Notar an das Krankenlager beorderte. Einige Stunden später war sie bereits ohne Besinnung. Darum dürfen wir zwar nicht gleich das Schlimmste fürchten. Aber besser ist’s doch, Sie kommen her, dann ist für alle Fälle gesorgt, und Ihrer Frau Mutter geschieht jedenfalls eine große Wohlthat –“

Leo faltete das Papier zusammen und legte es auf den Schreibtisch.

„Es wird mal wieder übertrieben sein,“ murmelte er und begann einige andere Briefe zu öffnen, die für ihn bereit lagen. Bei Lesung des ersten zog er hastig das Taschentuch und wischte sich über die Stirn, sein Gesicht sah ein paar Augenblicke ganz verfallen aus.

„Auch falscher Alarm! – Hm – Runo und Barkert sind bombensicher. – Was wohl die alte Dame mit dem Notar zu verhandeln hat?“ dachte er halblaut. „In dem Falle wäre es vielleicht gut, wenn Antje dennoch hinreiste. Nun, es stirbt sich nicht so leicht. Muß aber doch morgen mal zum Bankier!“

Er bückte sich abermals und hob eine kleine rothe Schleife auf, dieselbe, die Antje vorhin von sich geschleudert hatte. Er starrte sie an wie verloren; er erinnerte sich, daß Hilde sie heute mittag im Haar getragen hatte. Dann seufzte er und legte sie behutsam auf die Platte des Schreibtisches, nahm sie gleich darauf wieder und strich mit leisem Finger darüber, als habe er die Hand einer schönen geliebten Frau in der seinen. Wieder ein tiefer Seufzer, dann warf er das zierlich verschlungene Band auf den Tisch.

„Es ist zum Tollwerden!“ murmelte er und trat an das Fenster; seine geballte Faust lag auf dem Holz des Fenstersimses. Und jetzt war’s, als ab sie sich noch fester zusammenkrampfte – dort unten auf dem hellen Kieswege schritt eine dunkle schlanke Frauengestalt – Antje.

Wollte sie am Ende doch fort? Dann – nun dann mochte sie verantworten, was kam. Nein, sie tauchte eben dort wieder auf, sie irrte nur umher in ihrer übertriebenen Angst; es war doch einmal etwas, was sie aus ihrer unerträglichen Ruhe brachte!

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_187.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)