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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)


„Sie können wohl nicht finden, was Sie holen wollen?“ ertönte jetzt die Stimme der Alten, welcher das lange Verweilen des Mädchens dort oben befremdlich war.

Erschreckt erhob sich Hilde. „Nein!“ stammelte sie.

„Ist’s etwa ein Handschuh, den Sie suchen?“

Hilde strich sich über die Stirn. „Ja!“ erwiderte sie mechanisch, „ein Handschnh.“

„Der liegt unten bei mir, ich will ihn gleich bringen. Sehen Sie, das ging so zu: wie die Herrschaften heute die Treppe herabkamen, da stand ich unten, ich wollte doch auch einmal die gnädige Frau sehen; und da zog Herr Jussnitz gerade sein Taschentuch, dabei fiel der Handschuh, so ein kleiner, schwarzer, gewebter, aus der Tasche und just der gnädigen Frau vor die Füße. Er hat sich ganz rasch danach gebückt und den Kopf geschüttelt, wie ihn die Frau verwundert anschaute. ‚Wie komme ich denn dazu?‘ sagte er und lachte, und dann gab er den Handschuh mir. ‚Er wird dem Fräulein gehören, bewahren Sie ihn auf, Frau Kirchner!‘ hat er gesagt, und dann ist er mit seiner Frau und dem Herrn hinausgegangen. Ich sollte ja gewiß alle Tage ein wenig heizen, hat er noch zurückgerufen, und die Gnädige hat mir zwei Mark geschenkt, weil ich so gut sorgte für ihren Mann.“

„Die Dame – ich verstehe Sie nicht –“ kam es von zwei todtenblassen Mädchenlippen.

„War seine Frau. – Lieber Himmel, Sie haben sie ja heute früh gesehen! Da hat sie ihn wollen abholen nach Sibyllenburg. Nicht wahr, das ist ein liebes Gesichtel? Der Kutscher sagt, ein wahrer Engel sei sie und überhaupt sei es sehr schön auf Sibyllenburg, und Geld hätten sie, wenn nur sonst alles so recht – – Aber, du Himmlischer, wie sehen Sie denn aus, Fräulein!“ unterbrach sie sich.

„Ich? Wie soll ich aussehen? Kopfweh habe ich – bringen Sie mir Wasser; ich kann jetzt nicht gleich fort, der Weg ist weit – noch einen Augenblick nur –“

Hilde lehnte mit geschlossenen Augen in dem Stuhl. Sie war wie betäubt nach diesem Schlag, aber sie wußte doch, daß es Weihnachtsabend sei, daß sie in dem Raum sich befinde, in welchem alle ihre Hoffnungen emporgeblüht waren, in dem das erste selige Glück ihres jungen Herzens sich erschlossen hatte. Sie hörte die kleine buntemaillirte Uhr ticken und die eiligen Schritte der alten Frau auf der Treppe, sie sah dort drüben ihre schwebende Gestalt auf der Staffelei und sie empfand mit furchtbarer Deutlichkeit, daß ihr eben die Wahrheit berichtet worden war, daß der, dem sie ihr Herz geschenkt hatte, eine Frau besaß, eine junge, schöne, geliebte Frau, die er niemals ihr gegenüber erwähnt hatte.

Sie lachte kurz auf. Was hatte sie danach zu fragen, ob der Künstler, der sie malte, verheirathet sei? Welche Verpflichtungen hatte er denn, sie aufzuklären über seine Familienbeziehungen? Sie war ja doch nur sein Modell gewesen!

Die kleinen Hände krampften sich um die geschnitzten Löwenköpfe der Stuhllehne, ihre Brust hob sich zu einem tiefen Stöhnen. Wie das nur auf einmal war um sie her? Sie hörte die Thür gehen und stellte sich auf die Füße. „Es ist mir schon besser,“ sagte sie heiser und trank von dem Wasser, dann aber sank sie gleich wieder in ihren Sessel zurück. „Nur noch einen Augenblick möchte ich still sitzen, ganz still,“ bat sie.

Die alte Frau entfernte sich und legte drunten frische Kohlen in ihren Ofen. Sie schüttelte dabei den Kopf und murmelte etwas vor sich hin von Wunderlichkeiten der jungen Leute, die heutzutage allesammt überspannt seien, dann legte sie den kleinen Handschuh bereit, um ihn seiner Besitzerin zurückzugeben, setzte sich schließlich an den Ofen und drehte ein Tannenzweiglein in den Händen, das sie draußen gebrochen hatte, damit sie doch auch wisse, daß heute Christabend sei, und drehte so lange, bis sie einschlief.

Sie erwachte, leise fröstelnd, als just der heisere Kuckuck ihrer alten Wanduhr neunmal rief. Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie sich besann, daß das hübsche Fräulein heute abend noch gekommen war, ihren Handschuh zu suchen – das alte Ding lohnte wahrhaftig solche Mühe und solchen Weg nicht! Ob sie wohl noch da oben saß? Gähnend stieg sie die Treppe hinauf, um nachzusehen, ob sie fort sei, und ob nicht etwa das Licht noch brenne.

Richtig, es brannte noch, und das Mädchen saß auch noch da und sah sie groß an mit zwei starren ausdruckslosen Augen.

„Aber du meine Güte,“ jammerte die alte Frau, „was machen Sie nur noch hier, Fräulein? Sie werden sich erkälten, Sie haben ja nicht einmal eine Zudecke! Ueber Nacht können Sie doch auch nicht hierbleiben – Sie haben sich am Ende gar mit Ihrer Tante gezankt? Das wäre so ein Wunder gerade nicht, aber sehen Sie –“

Sie verstummte plötzlich, denn die Klingel der Pforte schrillte durch die Nacht. „Natürlich, sag’ ich’s nicht? Da kommt gewiß Ihre Frau Tante, und nun wird’s was geben!“ rief sie und lief eilig hinaus.

Hilde rührte sich nicht, mochte Tante Polly doch kommen. Sie dachte nicht einmal über eine Entschuldigung nach, die sie ihr sagen könnte, es war ihr alles einerlei. – Dann hörte sie die hohe Stimme der Frau Kirchner wieder auf der Treppe: „Hier herauf, bitte, die Stufen sind so hoch und – was ich sagen wollte, sie sitzt da, leibhaftig, ihren Handschuh hat sie vergessen gehabt, und –“

„Wie? Die schöne Spanierin selbst – heute abend?“ rief lachend eine glockenhelle Frauenstimme. „Geschwind. Nelly, wenn wir das Original statt der Kopie bringen, machen wir noch größeren Eindruck.“

Hilde erhob sich bei den ersten Worten und ihre Augen suchten nach einem Ausgang, durch den sie entschlüpfen könnte. Sie that ein paar Schritte auf den Eingang zum Nebenzimmer zu – da öffnete sich schon die Thür und in das spärlich erhellte große Gemach kamen, in Pelzmantel und Schleier gehüllt, zwei Damen. Die kleinere lief geradeswegs zu Hilde hinüber, welche verständnißlos auf die Eindringlinge sah, deren Erscheinen hier sie schlechterdings nicht begriff.

„Liebes Fräulein,“ lachte die kleine Baronin. „unsere Begegnung hier hat wirklich einen abenteuerlichen Anstrich und ist doch im Grunde so harmlos wie möglich. Das ist meine Cousine Nelly Benken, ich heiße Irene Erlach, wir wollten Ihr Bildniß holen. Jussnitz erlaubt nämlich nicht, daß wir es ansehen, bevor es in Berlin war. Wissen Sie, nun bin ich eine von denen, die Widerspruch zu allem möglichen reizt; ich sagte also, ich würde meinen Willen durchsetzen, und bot ihm eine Wette an, daß ich und alle die andern seine schöne Spanierin bis morgen gesehen haben würden; dann ließ ich anspannen und machte mich heimlich mit Nelly aus dem Staube. Wir wollten das Bild holen und finden nun das Original! Liebes Fräulein,“ fuhr sie mit glühenden Wangen fort, „seien Sie einmal genial und kommen Sie selbst mit, Sie erweisen uns den größten Gefallen – es giebt die allerschönste Ueberraschung!“

Hilde maß die Sprecherin, die ihren Arm erfaßt hatte, mit einem langen kühlen Blick von oben bis unten.

„Mein Gott, Nelly, so hilf doch zureden!“ rief die Baronin kläglich. „Kommen Sie, liebes Fräulein – darf ich um Ihren Namen bitten?“

„Von Zweidorf,“ sagte Hilde stolz.

„Bitte, liebes Fräulein von Zweidorf –“ die übermüthige junge Frau zeigte einen Augenblick einen etwas verwunderten Ausdruck – „kommen Sie mit. Sie sind doch unter meinem Schutz! Denken Sie sich das Erstaunen unseres Kreises, wenn ich auf so schöne Art meine Wette gewinne.“

„Bitte, bitte, Fräulein von Zweidorf,“ rief auch das junge Mädchen mit dem kecken, frischen Gesicht, in welchem deutlich die Sehnsucht zu lesen war, den Streich, den die Cousine vorgeschlagen hatte, auszuführen.

„Ich tauge nicht für die große Geselligkeit, ich bin Ihnen allen fremd, ich –“

„Ach, ich bitte Sie, wir sind höchstens dreißig Personen, lauter gute Bekannte unter einander; Sie finden ja doch auch Jussnitz mit seiner Frau –“

Hilde zuckte zusammen. – Seine Frau! Ein brennendes Verlangen, dieser Frau gegenüberzutreten in seiner Gegenwart, überkam sie. „Aber ich bin doch nicht für Gesellschaft gekleidet!“ stammelte sie.

„Macht nichts! Wir helfen aus, nicht wahr, Nelly? Deine Sachen würden passen. Schade, daß Sie nicht Ihr spanisches Kostüm –“

„Das ist hier im Nebenzimmer,“ sagte Hilde.

Die kleine Baronin schlug vor Entzücken in die Hände. „O, das paßt ja herrlich, wir wollten heute abend allerhand Unsinn

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