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verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

sie zum Sprachrohr und beorderte den Diener, um den Befehl ihrer Herrin ausführen zu lassen.

Die junge Frau war währenddem die breite Treppe hinauf gestiegen und hatte mit bitterem Lächeln ihr Zimmer betreten. Bis jetzt hatte er doch wenigstens nicht versäumt, sie durch irgend eine kleine Aufmerksamkeit an diesem Tage zu erfreuen; war er denn derartig erbittert, daß er sie so hart bestrafen mußte für etwas, was doch jedem Menschen zusteht als sein gutes Recht? Durfte sie allein keine Sympathien und keine Antipathien haben? Durfte sie allein nicht sagen: dieser Mensch ist mir lieb und jener weniger angenehm? Was konnte sie dafür, daß diese Baronin ihr in tiefster Seele so zuwider war, wie sie Leo aus tiefster Seele zu entzücken schien? Freilich, sie hätte schweigen sollen, aber das war Leo auch nicht recht –.

Sie seufzte und schritt zum Fenster hinüber, durch welches der letzte blasse Schimmer des Abendroths quoll. Die beiden großen Linden, deren Gezweig sich grell von dem blaßgoldenen dämmernden Himmel abhob, hatten kaum noch ein Blättchen, die sehnsüchtigen Frauenaugen konnten deutlich durch das Geäst der Bäume in die Ferne sehen; wie ein Miniaturbildchen in verschnörkeltem Rokokorahmen erblickte sie die im bläulichen Abendduft schimmernden Thürme Dresdens. Sie sah hinüber, bis ihr das klare Wasser in die Augen trat und die runde Kuppel der Frauenkirche in der rasch hereinbrechenden Dämmerung verschwamm. Ihre Hand strich mit dem Tuche über die Augen, aber sie blieb regungslos stehen, sie dachte, wie sie heute vor vier Jahren um dieselbe Zeit neben ihm durch den herbstlichen Wald gefahren war mit einem so dankbaren großen Glück im Herzen, einer wundervollen Zukunft entgegen – wie sie gemeint!

Wenn sie nur anders sein könnte, nicht so „schwerfällig“, nicht so „spießbürgerlich“, wie Leo gestern abend in vollster Heftigkeit gesagt hatte. Aber sie fühlte so deutlich, sie würde es nie lernen, jenes gefällige „sich gehen lassen“ in der Unterhaltung; nie begreifen, wie man es macht, zu lächeln über Sachen wie – nun, wie zum Beispiel über jene Geschichte, welche die Baronin gestern mit ihrer tiefen schönen Altstimme so gewissermaßen komisch dramatisch vortrug, die Geschichte zweier Eheleute, die sich gegenseitig schon seit Jahren betrügen, endlich in bester Freundschaft übereinkommen, sich scheiden zu lassen, und die sich nun nach erfolgter Trennung nie auf der Straße begegnen können, ohne ein paar freundliche Worte miteinander zu reden und sich höflich nach dem gegenseitigen Befinden zu fragen. – Sie hatte dabei gesessen mit erschrockenen Augen und nicht begriffen, wie Leo und die Baronin sich darüber todtlachen konnten, daß diese beiden auf dem letzten Ball beim Grafen L. sogar ein „Vielliebchen“ zusammen gegessen und sich ganz harmlos und gemüthlich allerhand Lustiges aus ihrem jetzigen Leben mitgetheilt haben sollten.

Antje fand alle ihre Ideale über die Ehe in den Schmutz getreten; sie wurde still und verstimmt und die Worte blieben ihr in der Kehle sitzen. Das hatte die Baronin gereizt, immer mehr und immer pikantere Geschichten zu erzählen, und schließlich war Antje aufgestanden und hatte sich, unter dem Vorwande, nach der Kleinen zu sehen, entfernt. Droben hatte sie an dem Bettchen gesessen und die zornigen Thränen waren ihr aus den Augen gedrungen. Dann war Leo heraufgekommen und hatte halb lachend, halb ärgerlich gesagt: „Du willst doch nicht etwa hier oben bleiben? Es ist unartig, uns allein sitzen zu lassen.“ Und als er die bewußten zwei Tropfen an ihren Wimpern entdeckte, hatte er gerufen: „So kannst Du natürlich nicht wieder erscheinen, aber es ist unglaublich, Antje, wie lächerlich Du Dich machst, einfach lächerlich!“

„Es ist möglich,“ hatte sie geantwortet. – Er war gegangen, und sie war ihm bis zum Treppengeländer gefolgt, aber er hatte sich nicht mehr umgesehen. Sie hörte, wie er mit den Worten in den Speisesaal trat: „Verzeihen Sie, Baronin, meine Frau hat heftiges Kopfweh.“ Dann ein langgezogenes bedauerliches „Ah!“ und bald darauf das reizende, ansteckende Lachen der schönen Frau. Antje hatte dann auf dem Flur gestanden, bis die Baronin fortfuhr; es war ihr gewesen, als seien die Wände von Glas, als sähe sie die junge Frau im Schaukelstuhl, den schönen Kopf an das Sammetpolster gelehnt, zwischen den hochrothen Lippen die Cigarette, und, wenn sie lachte, die Reihe blendender Zähne – Leo fand den Mund so besonders schön. – Als sie endlich fort war, half ein tiefer Seufzer ihre Seele von einer nie gekannten Spannung befreien.

Sie hatte ihren Mann auf der nämlichen Stelle erwartet und ihm die Hand entgegengestreckt; und drinnen im Zimmer hatte sie gesagt: „Sei nicht böse, Leo, sieh, wir waren doch auch vergnügt zu Hause, herzlich vergnügt sogar, aber an derartigen Sachen haben wir uns nie erheitern können.“

„O, ich kenne den ehrenfesten braven Humor Deiner Mama ja so gut, mein Kind,“ hatte er gähnend geantwortet.

Sie war verstummt, denn sie liebte ihre Mutter, und Leo wußte, er konnte ihr nicht weher thun als mit einer Bemerkung über die alte einfache Frau, die ihr lebenlang weiter nichts gethan hatte, als gesorgt und geschafft für Mann und Kind – ungeachtet ihres Reichthums. Aber in der langen schlaflosen Nacht hatte sie sich auch vergegenwärtigt, wie klug ihre Mutter es verstanden hatte, mit dem Vater umzugehen und unangenehme Dinge mit Freundlichkeit zu ertragen und zu übersehen, Dinge, die der Mutter vielleicht genau so zuwider waren wie ihr die freie Unterhaltung der Baronin. Und sie redete ernsthaft auf sich selber ein, daß sie doch einen Künstler geheirathet habe, daß es Unrecht sei, ihm eine so schöne Persönlichkeit verleiden zu wollen, die ein Malerauge ja entzücken müsse, und daß sie am Ende durch das Anhören des leichten Geschwätzes noch lange nicht in Gefahr sei, ihre Grundsätze zu ändern; um Leos willen wollte sie es künftig ertragen. Ewig konnte er ja doch an dem Bilde nicht malen, und diese häufigen Besuche mußten nach Vollendung des Gemäldes eines Tages aufhören oder doch seltener werden. Gegen Morgen war sie eingeschlafen mit dem festen Vorsatz, Leo zu versöhnen, indem sie für den Abend die schöne lustige Frau einlud, ihm so zugleich eine Ueberraschung für den Hochzeitstag bereitend.

Und nun waren sie so kläglich ins Wasser gefallen, diese schönen Pläne. Leo hatte augenscheinlich vergessen, daß es jemals einen siebzehnten Oktober gegeben hatte, an dem er eine junge selige Braut vor den Altar geführt. Er war gleich nach dem Frühstück in sein Atelier gegangen, ohne der letzten champagnerfarbenen Rosen zu achten, die in brauner Majolikaschale den Tisch festlich schmückten, und ohne nur mit einem Blick seines Töchterchens weißes gesticktes Kleidchen zu streifen.

Antje Jussnitz fühlte plötzlich, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Gott sei Dank, daß sie es unterlassen hatte, das mattrosa Morgenkleid anzubehalten, welches sie sich heimlich für diesen Tag hatte machen lassen, weil Leo neulich einmal geäußert: „Meine Frau ist stets Motte oder Fledermaus, sie hat keine andere Toilette als Grau in Grau oder Schwarz.“ Und Antje wollte ihm doch gefallen! Sie wünschte das so leidenschaftlich, wie nur je eine Frau es gewünscht hat, die ihren Mann liebt. So bestellte sie sich denn ein farbiges Morgenkleid und legte es heimlich an heute früh; als sie aber in den Spiegel blickte, erschrak sie vor dem Bilde, das ihr entgegen strahlte. Sie mußte finden, daß sie schön aussah, aber sie erschien sich förmlich herausfordernd in dem spitzenbesetzten Gewande mit der langen Schleppe und in dem Händchen mit den rosa Bandschleifen; es erinnerte an die Morgentoilette einer Bühnenkünstlerin in irgend einem modernen Salonstück. Sie kam sich vor, als gehe sie drauf aus, mit ihrem Manne kokettieren zu wollen, unwürdig und unwerth einer Frau, die sich geliebt weiß auch ohne solchen Firlefanz. Gott sei Dank, sie war wieder in ihr einfaches graues Kleidchen geschlüpft, sie würde sich sonst auch noch nachträglich geschämt haben, wenn er sie fremd und verwundert angeschaut hätte – gerade heute, an dem Heute, das er vergessen hatte!

Sie preßte plötzlich die Hände gegen die Augen, es that ihr furchtbar weh; zum ersten Male empfand sie eine thatsächliche Vernachlässigung. An ein gewisses Uebersehen war sie ja von Anfang an gewöhnt worden, selbst als Bräutigam hatte er ihr nie, wie man so sagt, zu Füßen gelegen. Sie kannte nicht, was es heißt, eine vergötterte Frau sein, der man Wünsche an den Augen abliest, deren kleinen Launen man Zeit und Geld und mehr noch als das – die Bequemlichkeit opfert, um deren Thränen oder Lächeln Thorheiten begangen werden. Sie kannte es nicht und vermißte es nicht. Sie hatte immer nur das Eheleben der Eltern vor Augen, wo der Vater als Gebieter verehrt wurde, dem die Frau diente. Bei Tisch hatte er den Ehrenplatz und besondere Leckerbissen, das bequemste Eckchen auf dem Sofa oder im Wagen. „Wenn Du es so willst, lieber Frey,“ waren die Worte gewesen, die Antje am meisten aus dem Munde

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verschiedene: Die Gartenlaube (1891). Leipzig: Ernst Keil's Nachfolger, 1891, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_022.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)