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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

„Rupert, wo willst Du hin?“ fragte der Pfarrer mit stockender, von seiner tiefen Erregung zeugender Stimme, indem er auf den Ranzen deutete.

„Fort!“ entgegnete Rupert kurz und räumte mit matter Bewegung den Ranzen vom Stuhle, damit der Pfarrer sich setzen könne. Auch mir bot er einen Schemel.

„Fort?“ fagte der Pfarrer. „Wohin, Rupert?“

„Das weiß ich noch nicht, Hochwürden,“ erwiderte Rupert in schmerzlich theilnahmlosem Tone, „was liegt mir daran, wie der Ort heißt, wo ich bleiben werde!“

„Und warum willst Du gerade jetzt fort? Gestern dachtest Du noch nicht daran – warum heute?“

„Weil gerade jetzt meine Kraft nicht mehr ausreicht, all das Elend zu ertragen,“ sagte Rupert mit zuckenden Lippen und finster umwölkter Stirn. „Gestern ging’s noch – heute geht’s nicht mehr. Die Welt ist weit, da kann man ja weit weg gehen. Ich will mir einen Ort aussuchen, wo ich bleiben mag, und so lange dort bleiben, bis sie’s auch dort erfahren, daß ich ein Mörder bin ... Dann wandere ich weiter, von Ort zu Ort. Im Grab werden sie mir ja endlich Ruhe lassen!“

„Die Menschen, ja!“ sagte der Pfarrer mit fester Stimme. „Aber das Gericht Gottes, Rupert! Das wird dann erst für Dich beginnen! Wirst Du vor dem bestehen? ..“

Rupert zuckte zusammen und fuhr sich mit der Hand nach dem Herzen, als hätte ihn ein jäher Stich getroffen.

„Herr Pfarrer,“ rief er erschrocken, „halten Sie mich denn auch für einen Mörder, daß Sie so fragen ...“

„Ich nicht, Rupert, denn ich weiß, daß Du keinen Mord verübt hast ... aber ... aber –“ er stockte, und Thränen traten ihm in die Augen, während er die Hände ineinander rang. „Rupert, der Herr sieht und richtet auch die Mordpläne und die Mordgedanken, und wenn er auch den Verzweifelnden nicht verdammt, so lange ihm halber Wahnsinn die Sinne verwirrt, so fordert er doch nachher Rechenschaft, wenn der Geist wieder klar geworden ist! – Was hattest Du vor in vergangener Nacht?“

Aschgrau wurde Ruperts Gesicht, und seine Brust arbeitete keuchend wie die eines Erstickenden.

„Ich habe es ja nicht ausgeführt!“ schrie er laut auf. „Ich konnte es ja nicht thun! Gott wird mir's verzeihen, denn er allein weiß, was ich gelitten habe!“

Er drückte beide Hände auf sein Gesicht und eine tiefe Stille entstand; wir waren alle drei zu erschüttert, um zu sprechen. Endlich fragte der Pfarrer leise:

„Du wolltest Magnus vergiften?“

Rupert ließ die Hände herabsinken und sah den Pfarrer aus hohlen Augen an.

„Woher wissen Sie es, Hochwürden?“

„Ich wußte es nicht ... Ich vermuthete es nur.“

Rupert holte tief Athem und sagte tonlos:

„Ja, ich wollte es ... Aber nun ist’s vorüber! Ich kann ruhig meinen Ranzen schnüren und von dannen ziehen. Mein Gewissen ist frei und ums Herz ist mir’s wieder ganz anders; leicht nicht, aber anders.“

„Du hast’s überwunden, Rupert?“ fragte der Pfarrer, angstvoll in seinen Zügen forschend. „Du kannst aus vollem Herzen dem kleinen Magnus Besserung und Genesung wünschen?“

„Ja, Hochwürden, ja!“ sagte Rupert fest. „Wie ein wüster Traum ist’s mir nur noch, daß ich das Kind hab’ umbringen wollen ... Nun ist’s vorüber.“

„Gott sei gepriesen!“ flüsterte der Pfarrer aus erleichtertem Herzen, Ruperts Hand warm drückend.

„Aber woher wissen Sie’s, Hochwürden?“ drängte dieser, „und wer ... wer weiß es noch außer Ihnen? Es war ja tiefe Nacht und böses Wetter ... Wer hat mich gesehen? Ich hab’ doch im Keller gesteckt, bis es Nacht war!“

In kurzen Worten sagte ich ihm, daß wir ihn beobachtet hätten.

„Nur Sie, Herr, und der Herr Doktor?“ sagte er sichtlich beruhigt.

„Niemand sonst,“ versicherte ich, „und es soll es auch niemand jemals erfahren. Die Giftflasche ist zerbrochen, und damit ist alles gut.“

„Alles gut!“ wiederholte Rupert bitter und traurig.

„Ja, alles gut!“ sagte ich, seine Hand ergreifend; „denn mit dieser Giftflasche, Rupert, wolltet Ihr den vernichten, der Eure Unschuld an Burkhards Tod klar vor allen Leuten an den ag bringen sollte. Von Euch und Burkhard ungesehen, war Magnus in der Klausenschlucht, als Euer Stiefbruder Euch ermorden wollte. Vor seinen Augen ist Burkhard in den Wasserfall gestürzt, und vor seinem Vater, vor Eva, dem Doktor und mir hat er’s bezeugt, daß Ihr unschuldig seid.“

Rupert sah mich starr an, als sei es ihm unmöglich, meine Worten zu fassen.

„Kommt ans Fenster,“ sagte ich, „und schaut hinaus!“

Ich hatte gesehen, daß auf dem Hofe sich wieder ein Menschenhaufen angesammelt hatte, Männer und Frauen, Burschen und Mädchen. Sie umringten den Moorheidler und Gertrud und blickten beständig zu Ruperts Fenstern hinaus. Halb taumelnd, ganz verwirrt trat dieser ans Fenster, und sofort erscholl unten jubelndes Zurufen, Hüte und Tücher wurden geschwenkt und ein Dutzend junger Bursche stürmte die krachende Stiege herauf, um Rupert hinunterzuholen. Dieser wußte noch immer nicht recht, wie ihm geschah, hatte noch nicht begriffen, wodurch dieser Umschwung entstanden war. Ein Stimmengewirr erhob sich, alle wollten ihm erklären und erzählen, was geschehen war. Aber jetzt schob auch der Otterhofbauer seine stolze, sonntäglich angezogene Gestalt in das dürftige Kämmerchen und gebot den übrigen Schweigen. Von ihm erfuhr Rupert ausführlich, was Magnus in jener Nacht, die beinahe seine Todesnacht geworden wäre, in so unzweifelhafter Weise bezeugt hatte.

„Wir alle sind Dir Genugthuung schuldig, Rupert,“ sagte der Bauer, trotz seiner selbstbewußten Haltung nicht ganz ohne Verlegenheit, „und ich thu’ Dir Abbitte, daß ich so Schlechtes von Dir gedacht habe. – Und jetzt komm herunter zu Deinen Eltern!“

Rupert ging mit den andern hinunter. Wir sahen vom Fenster aus, wie der Moorheidler seinen Sohn glückstrahlend ein Mal ums andere in die Arme schloß, wie sich alle herzudrängten, Rupert die Hände zu drücken, wie dessen Züge allmählich sich aufhellten, seine Wangen sich rötheten und das Gefühl wiederkehrenden Glückes offenbar sein Herz zu erfüllen begann. Schnell konnte er sich in die Wandlung nicht finden, dazu war er zu tief und hoffnungslos unglücklich gewesen. Auch dem Moorheidler liefen, trotz seiner Freude, dicke Thränen über die bleichen, hohlen Wangen; auch ihn mochte das Gefühl beherrschen, daß er seinen Sohn lange hatte schuldlos leiden lassen! Gertrud drückte und küßte nur stumm Ruperts Hand; dann ging sie still in ihre Kammer; ihr tiefbewegtes Herz drängte sie, sich allen Zeugen zu entziehen. Rupert dagegen konnte sich seiner jubelnden Kameraden nicht erwehren und mußte sich von ihnen ins Wirthshaus führen lassen, wo ihm bei fröhlichem Zusammensein bald ganz warm ums Herz wurde. Als er zurückkehrte, fand er den Moorheidehof mit Laubkränzen geschmückt, zwischen denen seine in der Sonne leuchtenden kleinen Fenster ganz lustig hervorblinzelten. Aber lieber, tausendmal lieber als alle Kränze war ihm der so lange entbehrte liebevolle Gruß seiner Eltern, die ihm beide mit glücklichen Gesichtern auf der Nothbrücke entgegenkamen.




Noch nie hatte der Pfarrer mit tieferer Empfindung und mit größerer Beredsamkeit eine Traurede gehalten, als an dem Tage, da er Rupert und Eva vor dem Altare als Ehepaar zusammengab.

Es war eine sehr feierliche Trauung! Der Moorheidler, Gertrud und der alte Schachtelmacher fühlten sich ganz stolz inmitten der reichen Verwandtschaft des Otterhofbauers, die in stattlicher Pracht der Gewandung vollzählig erschienen war. Der kleine Magnus, gesund und pausbäckig, trug das Sammetkittelchen mit den Silberknöpfen und das rothe Tuchwestchen, die Eva ihm gemacht hatte; die eine seiner kleinen Fäuste klammerte sich an die schwerseidene Schürze seiner Mutter, die andere hielt einen Blumenstrauß, hinter dem er fast verschwand und zwischen dessen Blumen man die veilchenblauen Augen fröhlich glänzen sah, die sich beinah für immer geschlossen hätten, all das Glück mit sich begrabend, das sich jetzt so ungetrübt und zukunftsfroh entfalten durfte!




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