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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

seinen Ungehorsam zu verheimlichen, und er hatte gehofft, derselbe werde nie an den Tag kommen; sein Schiffchen würde man nicht finden, er wußte, daß nie jemand in diesen Theil der Klausenschlucht kam.

„Armer, armer Rupert!“ rief Eva, als das Kind seinen Bericht geschlossen hatte, „auf den Knieen will ich’s ihm abbitten daß ich ihm so schweres Unrecht gethan hab’! Ach, in meinem ganzen Leben kann ich’s nicht abtragen, was ich an ihm verschuldet hab’!“ Und sie brach in ein lautes fassungsloses Schluchzen aus.

Jakob schwieg anfänglich. Dann aber richtete er sich hoch auf und sagte in stolzem Tone:

„Wahr ist’s, daß wir alle dem Rupert Genugthuung schuldig sind, und was ich schuldig bin, das bleib’ ich nicht schuldig, sondern trag’ es ab, wie sich’s gehört. Morgen geh’ ich in den Moorheidehof und red’ mit dem Rupert und mach’ es auch dem Schwager klar, wie er sich jetzt zu verhalten hat.“

„Nun, Eva, und dem Rupert darf ich wohl jetzt wieder Grüße bringen?“ fragte der Arzt in vorwurfsvollem Tone.

„Aber das Kind!“ rief plötzlich Jakob bestürzt. „Jetzt stirbt es am Ende doch noch?“

Er war ganz blaß geworden.

„Der, der ihm Besserung geschenkt hat, wird ihm auch Genesung schenken,“ entgegnete der Arzt sehr ernst, „und da es, wie Ihr wohl jetzt einseht, der Satan nicht war, so wird es wohl ein Anderer gewesen sein. Dem wollen wir getrost das Kind empfehlen!“




Die Kirche war am folgenden Tage – einem Sonntage – übervoll, denn wie ein Lauffeuer hatte sich bereits in der Frühe die neue Kunde von der Aussage des kleinen Magnus verbreitet und überall freudige Aufregung hervorgerufen. Mehrere junge Wieselbacher Burschen waren in die Klausenschlucht geklettert und hatten Magnus’ ganz wohlerhaltenes Schiffchen im Triumphzuge heruntergebracht und vor dem Altar aufgestellt. Die Sonne schien, die Gemeinde war in gehobener, erwartungsvoller Stimmung und der Pfarrer predigte über das Apostelwort: „Wenn Gott für uns ist, wer mag wider uns sein?“ Er spielte dabei immerwährend auf Rupert an als auf einen, wider den sich alles erhoben hatte, aufgestachelt und geblendet durch die finstere Macht des Aberglaubens, und dem Gott dennoch durchgeholfen habe, weil auch das schwächste Werkzeug in seiner Hand allmächtig wird und auch der Mund eines Kindes seiner Gerechtigkeit zu dienen vermag.

Aber der Platz in der Kirche, wo in früheren Zeiten der Moorheidler mit den Seinigen zu sitzen pflegte, und den schon längst Gertrud allein einnahm, war diesmal ganz leer geblieben. In den Moorheidehof war die Freudenbotschaft noch nicht gedrungen, es hatte sie niemand hingebracht, weil Rupert und seine Eltern durch die Hindeutungen des Predigers überrascht werden sollten. Da aber nun daraus nichts geworden war, so stürmten nach dem Gottesdienste die Bauern in hellen Haufen zum Moorheidehofe, der mit seinem düsteren, stillen Aussehen und seiner vereinsamten Lage den Eindruck machte, als habe er keinen Theil an all der freudigen Aufregung in den Dörfern des Gebirgsthales.

Auf dem Hofe kam den Leuten der Moorheidler entgegen und fragte, was es gäbe.

„Wo ist Rupert?“ rief es aus dem Haufen. „Der muß es zuerst hören!“

Der Moorheidler wies mit gleichgültiger, trüber Miene nach den oberen Giebelfenstern hin.

„Er ist oben und wird wohl seine Sachen packen,“ sagte er mit heiserer Stimme. „Er ist die ganze Nacht fortgewesen und erst in der Früh’ heimgekommen. Er sah sonderbar aus und sagte, ich sollt’ mich nach einem Knecht umsehen, er wolle fort, noch heut’ … Mir ist’s recht,“ fügte er mit einem aus tiefstem Herzen kommenden Seufzer hinzu, und er wandte sich still ab, ohne sich weiter um die Leute zu kümmern.

Zu diesen hatte sich inzwischen der Pfarrer gesellt, der jetzt ein paar Burschen, Ruperts ehemalige Freunde, zu ihm hinaufschickte, um ihn zu rufen. Aber sie kamen nach einer Weile unverrichteter Sache wieder zurück, die Thür sei verriegelt, sagten sie, und niemand habe auf ihr Rufen geantwortet. Da sich auch der Moorheidler mittlerweile entfernt hatte und Gertrud nirgends zu sehen war, so blieb den Verkündigern der Freudenbotschaft nichts übrig, als den Rückzug anzutreten.

Ich hatte mich ebenfalls nach dem Moorheidehof begeben wollen, begegnete aber vor dem Dorfe dem Pfarrer, der mir berichtete, daß Ruperts Thür verriegelt sei und alles Rufen seiner Freunde nichts geholfen habe.

„Er ist erst spät in der Nacht nach Hause gekommen und liegt vielleicht noch im tiefsten Schlafe,“ meinte der Pfarrer.

„Dann wäre aber doch seine Thür nicht verriegelt,“ entgegnete ich; „das ist doch nicht Brauch bei den Bauern.“

Der Apotheker war zu uns getreten und hatte gehört, was wir sagten. Er machte eine bedenkliche Miene, hüstelte und sagte in leisem Tone:

„Er wird sich doch kein Leid’s angethan haben, der Rupert? … Mir ist er gestern abend so … so .., na, wie soll ich sagen, so verdächtig vorgekommen wie einer, der verzweifelt finstere Gedanken mit sich herumträgt.“

Sogleich stand mir die nächtliche Scene vor dem Gedächtniß, die ich vor nur wenig Stunden mit dem Arzt erlebt hatte, und es beschlich mich ein beklemmendes Gefühl.

„Gestern abend?“ fragte ich. „Hat er da die Medizin für den Kleinen im Otterhofe bei Ihnen geholt?“

„Ja, es mag so ungefähr sieben Uhr gewesen sein …“

„Sieben Uhr?“ entgegnete ich. „Und es war Mitternacht, als er sie brachte!“

„Er war, wie gesagt, ganz verstört,“ fuhr der Apotheker fort, „und verlangte, außer der Medizin, eine Portion Rattengift. Das geb’ ich sonst nicht gern, aber dem Rupert mocht’ ich’s nicht abschlagen, wegen des dummen Gerüchts, daß er ein Mörder sei; es sollte doch nicht aussehen, als traute ich ihm Uebles zu, wie all die abergläubischen Bauern es bis jetzt gethan haben. Ich gab ihm vergifteten Weizen, aber er sagte, den fräßen am Ende die Hühner, Meerzwiebel wollte er auch nicht und nahm schließlich ein Präparat mit Strychnin, welches ich für Ratten vorräthig halte. Er besah sich’s hin und her und fragte, ob ein Mensch auch daran sterben könne und wie viel dazu gehöre, so daß ich ihn noch eindringlich warnte, recht achtsam damit zu sein. Einem andern hätte ich auf solche Fragen das Gift wieder fortgenommen, aber beim Rupert wär’ es ja Unsinn gewesen, zu glauben, er wolle jemand vergiften. Wer hätte das sein können? An ihn selbst dacht’ ich gar nicht.“

Ich wußte, wer es war! Von diesem Augenbick an verstand ich die ganze, grauenhafte Bedeutung des nächtlichen Besuches Ruperts auf dem Otterhofe! Er hatte den kleinen Magnus, dessen Genesung sein ganzes Lebensglück vernichtete, Schande und Verfehmung über ihn brachte, mittels vergifteter Arznei ermorden wollen! Aber er hatte sich noch einmal der finsteren Macht des Aberglaubens entwunden, all das schwere Unrecht, das ihm geschehen war, hatte sein Herz nicht verhärtet, das Kind hatte, friedlich schlafend, durch seinen bloßen Anblick für seine Rettung gekämpft – und zersplittert lag die Giftflasche auf dem Pflaster des Hofes! –

Alle diese Gedanken und Vorstellungen durchzuckten in wenigen Sekunden meine Seele. Ich ergriff den Pfarrer beim Arme, zog ihn hastig zur Seite und erzählte ihm, was der Arzt und ich in der vergangenen Nacht beobachtet hatten. Leichenblässe überzog das Gesicht des wackeren Mannes bei meinem Berichte. „Er hat das Kind umbringen wollen!“ murmelte er tonlos. „Der Unglückselige!“

Dann ergriff er meine Hand. „Kommen Sie, kommen Sie, lieber Freund!“ rief er in fieberhafter Erregung. „Ich muß zu ihm gehen, muß mit ihm sprechen, muß mich überzeugen, daß er wieder ganz erwacht ist aus seinem Wahnwitz! Mir wird er die Thür öffnen, ich habe ihn ja aufwachsen sehen, habe ihn unterrichtet, und er weiß, wie lieb ich ihn habe!“

Er eilte davon und ich mußte ihm folgen, denn er hatte meine Hand nicht losgelassen.

In der That öffnete Rupert die Thür, als wir ihn riefen. Ich fühlte mich von einer großen Angst befreit, als ich ihn lebend und offenbar gesund erblickte. Er war auffallend bleich und sah sehr abgehärmt aus, aber es lag nichts Verstörtes mehr in seinen Zügen, nichts Unstätes und Unheimliches mehr in seinen von langer Schlaflosigkeit glanzlosen, matten Augen; sein ganzes Wesen zeigte jetzt Ruhe. Ein kleiner Ranzen lag fertiggepackt auf einem Stuhle, an dem ein knotiger Wanderstab lehnte.

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